Entspannt mit gesundem Teint: Rudolf Anschober tat der Abgang aus der Politik sichtlich gut – losgelassen hat ihn die Pandemie dennoch nicht
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Er ist nicht vergessen. Rudolf Anschober betritt den Schanigarten des Café Dommayer im 13. Bezirk Wiens, da stürmt auch schon ein Gast auf ihn zu. "Ich habe Sie immer gemocht", sagt die Frau: "Und Sie sehen blendend aus."

Vor einem Jahr ließ sich das – pardon – nicht behaupten. Nach zweimaligem Kreislaufkollaps war der von der Corona-Krise ausgepowerte Grün-Politiker als Gesundheitsminister zurückgetreten. Seine Erfahrungen aus den 15 Monaten davor hat der Oberösterreicher, der nun in Wien-Hietzing lebt, im Buch "Pandemia" aufgearbeitet.

STANDARD: Am 13. April jährt sich Ihr Abschied aus der Politik. Haben Sie seither wieder gelernt, ausgiebig und erholsam zu schlafen?

Anschober: Ja, obwohl es eine Zeitlang gedauert hat. Ich habe wieder Kraft gefunden, lebe eine andere Form der Freiheit. Als neuer Selbständiger bin ich für alles zuständig, was ich früher delegiert habe. Ich bin IT-Beauftragter genauso wie Terminsekretär.

STANDARD: Aber die Pandemie hat Sie nicht losgelassen?

Anschober: Nein, wie soll das irgendjemandem auch gelingen?

STANDARD: Beim Lesen gewinnt man an manchen Stellen den Eindruck, als ob sie die Politik wieder reizt. Sie würden einiges anders machen wollen als die Regierung – oder?

Anschober: Reiz verspüre ich keinen, und ich habe nun den Vorteil, nach den Erfahrungen meiner aktiven Tätigkeit beim Erarbeiten von "Pandemia" mit hunderten Betroffenen und Experten gesprochen zu haben. Wolfgang Mückstein hat den Job total engagiert gemacht, und das gilt für Johannes Rauch genauso. Aber was ich mit dem Buch auch zeigen will: Es liegt eben nicht an der Entscheidung von Gesundheitsministern alleine. Es braucht die Umsetzung durch die Bevölkerung, und jede Verordnung setzt nun einmal den Konsens in der Bundesregierung und mit den Ländern voraus. Wir haben jetzt dieselben Fehler erlebt wie zu meiner Zeit. Ja, die Öffnungen kamen mit Anfang März in ganz Europa zu früh – aber auch ich habe zugelassen, dass in manchen Bereichen zu früh gelockert wurde. Dabei ist das für Gesundheit und Wirtschaft kontraproduktiv, weil so die Plattform für eine nächste Welle geschaffen wird. Das ständige Drängen auf Öffnung ist in Wahrheit Selbstbeschädigung.

STANDARD: Ist es klug, die Tests einzuschränken?

Anschober: Das bezweifle ich. Ich ein großer Fan unseres Testregimes und beeindruckt, wie professionell das gerade in Wien umgesetzt wird. Man sollte Menschen, die vorsichtig und verantwortungsvoll handeln, unterstützen – und das nicht zur Frage des Einkommens machen.

STANDARD: Sie beschreiben sehr präzise und berührend die Auswirkungen der Pandemie aus verschiedenen Blickwinkeln: Von der Intensivmedizinerin über die Buchhändlerin bis zu den Angehörigen von Verstorbenen. Etwas einsilbig wirken Sie aber mitunter, wenn es um die politischen Vorgänge in manchen heiklen Momenten geht.

Anschober: Ich wollte eben keine Abrechnung schreiben.

STANDARD: Ich bin nicht wirklich schlau daraus geworden, wie die Regierung in den desaströsen ersten Herbst geschlittert ist, der die höchsten Todeszahlen der ganzen Pandemie brachte.

Anschober: Wir hatten die erste Welle gut bewältigt. Da waren wir schnell, konsequent, einig. Das hat paradoxerweise Schwierigkeiten mit sich gebracht. Wir waren so erfolgreich, dass manche Leute den Eindruck gewannen, die harten Maßnahmen seien gar nicht nötig gewesen. Kurz ist in den Umfragen so nach oben geschossen, dass die Opposition unruhig wurde – da war die Einigkeit dahin. Und dann haben manche Menschen den unfassbaren Kontrollverlust nicht ertragen – was ins Leugnen umgeschlagen hat. Im Sommer 2020 ist ein Teil der Bevölkerung völlig abgebogen. Und wir haben es nicht geschafft, sie rechtzeitig in die Realität der Pandemie zurückzuholen.

STANDARD: Kann sich eine Regierung darauf nicht einstellen?

Anschober: Doch. Im September wussten wir ja, dass es im Herbst problematisch werden könnte. Dann kamen zwei Kaltwettereinbrüche, mit denen die Post abgegangen ist. Die Politik aber hat eine Reaktionszeit von zwei, drei Wochen: Eine Maßnahme muss verhandelt, in eine Verordnung gegossen, in Kraft gesetzt werden – und dann dauert es noch, bis sich eine Wirkung entfaltet. Unser Bremsweg war zu lang für das Virus.

Sebastian Kurz habe sich vom Antreiber zum Bremser gewandelt, urteilt Anschober und vermutet als einen Grund die sinkende Zustimmung der Bevölkerung: "Eine abschließende Antwort habe ich nicht gefunden."
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STANDARD: Haben Sie selbst keine Fehler gemacht? Sie schreiben im Buch, dass Sie sich gefragt hätten, wo Sie falsch abgebogen sind. Die Antwort bleiben Sie eher schuldig.

Anschober: Selbstverständlich habe ich Fehler gemacht. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass der Herbst die größte Herausforderung ist – zu 30, 40 Prozent ist die Infektionsentwicklungen mit dem saisonalen Effekt zu erklären. Darauf muss sich eine Regierung vorbereiten: frühzeitig die Inzidenzen herunterholen, frühzeitig die Bevölkerung wachrütteln. Das haben wir nicht rechtzeitig geschafft.

STANDARD: Bei der Fehlersuche im Buch kommen Sie an Sebastian Kurz nicht vorbei. Der Kanzler habe sich vom Antreiber für konsequente Maßnahmen parallel zum Stimmungsumschwung in der Bevölkerung zu Bremser gewandelt, schreiben Sie. Stimmt also das Bild vom Politiker, dem die eigene Popularität der wichtigste Maßstab ist?

Anschober: Eine abschließende Antwort habe ich nicht gefunden. Die sinkende Zustimmung in der Bevölkerung kann ein Grund für seinen Wandel gewesen sein. Es kann aber auch sein, dass der Druck der Wirtschaft und der Länder gewachsen ist, und dazu kommt ein natürlicher Interessenskonflikt. Der Gesundheitsminister ist dazu da, besonders harte, konsequente Maßnahmen zu fordern. Ein Regierungschef muss auch andere Interessenslagen mitdenken.

STANDARD: Ist es heilsam für das Land, dass Kurz weg ist?

Anschober: Es war richtig, dass Kurz sich ganz von der Politik zurückgezogen hat. Abgesehen davon, dass seine Handlungsfähigkeit durch all die Vorwürfe massiv eingeschränkt war: Die Diskrepanz zwischen seinem Anspruch, eine neue politische Kultur zu leben, und dem Bild, das die Chats ergeben, war dramatisch.

STANDARD: Sie haben bei Ihrer Abschiedsrede also nicht zufällig darauf verzichtet, sich bei ihm zu bedanken.

Anschober: Ich hatte mich auf die Rede fast nicht vorbereitet, sondern habe aus dem Bauch heraus gesprochen. Und herzlich bei denen bedankt, denen ich viel zu verdanken hatte. Das war keine Rede für die Galerie. Aber mir geht es mehr darum, was wir aus all dem für die Zukunft lernen können. Denn das ist eines der Hauptprobleme in der Politik: Alles ist so schnelllebig, dass du kaum zum Reflektieren kommst – und deshalb schwer aus Fehlern lernen kannst.

Der Ex-Minister fordert für den Herbst eine EU-weite Niedriginzidenzstrategie und warnt vor jedem Experiment der Durchseuchung: "Eine Immunisierung gegen Omikron schließt nicht aus, drei Wochen später neuerlich angesteckt zu werden."
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STANDARD: Welche Lehre ziehen Sie?

Anschober: Im Hinblick auf kommenden Herbst müssen wir in Europa mit diesem Sammelsurium an Lösungen aufhören. Es gibt keine Insel auf diesem Planeten, die nicht von Covid betroffen ist, und trotzdem haben wir national und sogar regional reagiert. Damit ist das Vertrauen der Bevölkerung – wichtigster Wirkstoff in der Pandemie – schrittweise verloren gegangen. Für Herbst brauchen wir ein Ende von Kleinklein, eine europaweite Strategie – und die muss auf niedrige Inzidenzen abzielen. Mit dem Ziel der Kontrolle des Virus.

STANDARD: Wäre eine Niedriginzidenzstrategie wirklich der richtige Weg? Als die ansteckendere, aber im Vergleich zum Vorgänger Delta weniger gefährlichere Omikron-Variante um sich griff, gaben Kapazunder wie der deutsche Virologe Christian Drosten die Parole aus: Für eine breite Immunisierung müsse sich jeder – Impfung als Basis vorausgesetzt – anstecken.

Anschober: Auch Drosten hat das mittlerweile relativiert. Für mich ist Durchseuchung in keiner Spielart eine Antwort. Denn eine Immunisierung gegen Omikron schließt nicht aus, drei Wochen später neuerlich angesteckt zu werden. Da ist viel Leid durch Fehlinformation entstanden.

STANDARD: Sie versuchen gerne, Zuversicht zu versprühen. Im Buch klingt manches aber gar nicht danach. Der Klimawandel befeuere Pandemien, die Gefahr sei in beiden Fällen seit Jahrzehnten bekannt – trotzdem bereiteten sich die Gesellschaften nicht entschlossen vor. Ebnet die Menschheit den Weg zum eigenen Niedergang?

Anschober: Da gibt es diesen Satz von Hölderlin, der mich beim Herz gepackt hat: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Ich glaube schon, dass wir als vernunftbegabte Wesen so ticken. Dazu müssen wir aber die Grunderkenntnis aus der Pandemie begreifen: Wir sind erst dann sicher, wenn alle sicher sind. Ich nenne das solidarischen Egoismus. Wenn die Pandemie mit einem Erfolgserlebnis endet, verinnerlichen wir dieses Prinzip vielleicht – das werden wir brauchen für die nächsten Krisen.

STANDARD: Denkbar, dass Sie sich dafür einmal wieder als Politiker einsetzen?

Anschober: Für mich war mein Ausscheiden aus der Bundesregierung auch das Ende meiner parteipolitischen Karriere.

STANDARD: Aber wenn in sechs Jahren zum Beispiel ein neuer Bundespräsidentschaftskandidat gesucht wird, der sich als unabhängig deklariert?

Anschober: Nein, ich strebe nichts mehr an in der Politik. Aber wissen Sie, was in einigen Jahren ist? (Gerald John, 2.4.2022)