Rudolf Anschober zeichnet anhand von fünf teils fiktiven Personen – einer Intensivmedizinerin, einer Forschungskoordinatorin, einer Long-Covid-Patientin, einer Buchhändlerin und eines Ministers – die vielschichtigen Herausforderungen der Corona-Pandemie nach.

13. April 2021
Bericht aus dem Maschinenraum

Seit Wochen spüre ich, dass meine Kraft nachlässt. Nach meinem zweiten Kreislaufkollaps befinde ich mich tageweise im Spital. Die Ärzte stellen starke gesundheitliche Folgen meiner Überarbeitung fest: Der Blutdruck ist sehr hoch, die Zuckerwerte sind höher, der Tinnitus ist schwer zu ertragen.

Manche Fragen, etwa von Journalisten bei Pressekonferenzen, kann ich akustisch nicht mehr vollständig verstehen. Es fehlt mir nach so vielen Monaten Überlastung die Kraft – eine Pandemie kannst du nicht mit sechzig Prozent deiner Kraft managen, sie verlangt alles von dir und oft noch mehr.

"Mit Ende 2021 werden zwei Drittel der Ministerkollegen der EU-Mitgliedsstaaten, mit denen ich Anfang 2020 gestartet bin, nicht mehr im Amt sein", schreibt Ex- Gesundheitsminister Anschober in seinem "Bericht aus dem Maschinenraum".
Foto: Ulrik Hölzel

Was ist die Wahl? Entweder weiter zu viel zu geben und ernsthaft und dauerhaft zu erkranken, was bisher nach allen Untersuchungsergebnissen noch nicht eingetreten ist – oder auf die eigene Gesundheit zu achten und die Notbremse zu ziehen, so schwer mir dies auch fällt.

Das Management der größten Gesundheitskrise seit langem ist in allen Staaten eine große Herausforderung. (Mit Ende 2021 werden zwei Drittel der Ministerkollegen der EU-Mitgliedsstaaten, mit denen ich Anfang 2020 gestartet bin, nicht mehr im Amt sein.)

Hinter mir liegen 16 Monate, geprägt von einer enormen Belastung: ein riesiges Ressort mit großen Reformzielen, die ich nicht bis zum Ende der Pandemie schieben wollte, mein Anspruch auf umfassende Kommunikation und direkten Dialog mit der Bevölkerung, Pandemiemanagement in einer nicht einfachen Koalition. Hätte ich den Stil meiner politischen Arbeit verändern müssen? Oder für die Dauer der Pandemie Teile des Ministeriums an einen Regierungskollegen abgeben sollen?

Ich berate mich intensiv mit meinen engsten Vertrauten und mit Ärzten. Schließlich steht für mich fest: Ein Gesundheitsminister ist zuallererst für die Gesundheit verantwortlich. Auch für seine eigene. Wenn ich mich sehenden Auges kaputtmache, bringt das niemandem etwas. Eine Pandemie braucht einen Krisenmanager an der Spitze, der mit ganzer Kraft arbeiten kann. Ohne Pandemie könnte ich mir selbst als Minister vier Wochen Urlaub gönnen, völlig abschalten und mich erholen. Als oberster Verantwortlicher für die Bekämpfung der Pandemie ist das unmöglich.

Durch das Spalier

Vor einigen Tagen ist für mich die Entscheidung gefallen, mehrfach habe ich mit Werner Kogler telefoniert, er ist ein echter Freund. Gemeinsam haben wir die Nachfolge geregelt, heute befinde ich mich auf dem Weg nach Wien, um bei einer Pressekonferenz eine "persönliche Erklärung" abzugeben: meinen Rückzug.

Bundeskanzler Kurz informiere ich telefonisch. Knapp vor Beginn der Pressekonferenz, die im Gesundheitsministerium stattfindet, betrete ich mein Büro, atme durch und nehme mir vor, kurz, sachlich und gefasst zu bleiben. Ein kurzes Gespräch mit meiner Kabinettschefin Ruperta Lichtenecker, die mich über den Ablauf informiert und die Dinge wie immer im Griff hat.

Der Weg zur "persönlichen Erklärung" führt durch ein Spalier, das zu meiner Überraschung meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebildet haben. Sie applaudieren, ich schaue in ihre Gesichter, sehe viele Tränen, und vorbei ist es mit meiner Gelassenheit. Innerlich bebend betrete ich nun den Raum, der gefüllt ist mit vielen Journalistinnen und Journalisten, mit denen ich in den letzten Monaten zusammengearbeitet habe.

Vorsichtig bleiben

Ein Blick in die Runde, noch einmal durchatmen, ein Schluck Wasser, und los geht es ein letztes Mal. Meine Rede ist schlecht vorbereitet, und das ist ein Glück: Ohne einen Redetext vortragen zu können, spreche ich auf Basis einiger Stichwörter, sprechen mein Herz und mein Bauch. Ich berichte von meinem Gesundheitszustand, schaue in die Augen der Anwesenden, eine Verbindung entsteht. Die Rede wird im Fernsehen live übertragen, meine Stimme bricht.

Wir haben die große Welle in diesem Frühling gut bewältigt, auch weil es gelungen ist, einen Lockdown in Ostösterreich durchzusetzen. Jetzt sinken die Zahlen, die nächsten Wochen werden eine Erleichterung bringen. Ich mahne und bitte darum, vorsichtig zu bleiben. Das Virus ist nicht weg, auch wenn die Infektionszahlen sinken und wir nun die Impfungen haben. Das Virus wird uns nur eine Atempause gönnen.

Ich verabschiede mich, winke und gehe die wenigen Meter aus dem Saal im Gesundheitsministerium in mein Büro und lasse mich in meinen Schreibtischstuhl sinken. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen, Tränen werden vergossen, die ersten Blumensträuße und Geschenke gebracht. Beinahe im Sekundentakt treffen E-Mails, Postings, SMS und Whatsapps ein.

Respekt vor dem Menschen

Ich verabschiede mich von einigen besonders lieb gewordenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und beginne mein Büro auszuräumen. Ablenkung. Ich gehe eine kleine Runde durch die Stadt, brauche Sauerstoff. Mitten auf der Brücke bremst ein schwarzer BMW, zwei junge Männer springen aus dem Fahrzeug und stürmen auf mich zu: Wir wollten nur rasch Danke sagen, Sie sind ein guter Mann.

Autos, Radfahrer, Fußgänger kommen vorbei – viel Applaus.

In den kommenden Tagen treffen weiter zehntausende Briefe, Postings und E-Mails ein. Die Geschenke hätten ausgereicht zum Eröffnen eines kleinen Blumengeschäfts und eines Fachgeschäfts für Mohnstrudel, meine Lieblingsmehlspeise.

In den nächsten Wochen und Monaten höre ich ein Wort so oft wie noch nie in meinem Leben: Danke. Das gibt mir Kraft und unterstützt mich auf dem Weg der Genesung. Kein Tag in diesem Jahr ohne dutzende Menschen, die mich auf der Straße, im Zug, in der U-Bahn ansprechen und sich bedanken. Keine Ehrfurcht vor dem Amt, sondern Respekt vor dem Menschen.

Die letzte Fahrt

Mein Fahrer bringt mich nach Oberösterreich. Die letzte Fahrt, wegen der vielen Geschenke ausnahmsweise nicht mit der Bahn.

Zu Hause angekommen, begrüßen mich meine Partnerin und mein Hund. Ein langsamer Spaziergang in die Abenddämmerung, zu dritt, wie schon so lange nicht mehr. Ich habe alles gegeben, was in mir war. Gemeinsam mit einem tollen Team.

Ich habe einen ausgezeichneten Nachfolger und werde eine gute Übergabe sicherstellen. Jetzt beginnt mein neues Leben. Und davor die Zeit des Durchatmens, Krafttankens und Wiedergesundwerdens. Ich spüre, es ist die richtige Entscheidung. Die Alternative wäre meiner Selbstaufgabe gleichgekommen.

1. Jänner 2022
Kathrin Hinz, Das letzte Feuerwerk?

Was ist das?, fragt Oberärztin Kathrin Hinz. Ein kollektiver Schock? Kollektive Verdrängung? Verantwortungslosigkeit? Überforderung? Warum ist ein derartiges multiples Versagen möglich, und wie ist es zu erklären? Eine vierte Welle, die jetzt in eine fünfte mündet – und statt schneller Gegenmaßnahmen immer mehr Aufstand gegen die Maßnahmen. Nicht in einem Land, sondern in ganz Europa!

"Ich bin überlastet und ausgepowert": Am 13. April 2021 gab Rudolf Anschober seinen Rücktritt bekannt.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Jeder Tag des Zögerns verlängert den Bremsweg. Jeder Einzelne, der sich verunsichern lässt, verschärft die Situation in den Spitälern. Je mehr Menschen in die Resignation getrieben werden, desto länger dauert die Pandemie. Je mehr Mitarbeiter durch Demonstrationen, Beschimpfungen und Überlastung frustriert sind, langsam ausbrennen oder sogar kündigen, desto schwieriger wird es, die Versorgung zuverlässig aufrechtzuerhalten. Unser ganzes System ist nach zwei Jahren Überlastung schwer übermüdet.

Mit Omikron passiert eine Umdeutung der Pandemie. Plötzlich wird von einem milden Virus gesprochen, obwohl die WHO genau davor warnt und Omikron in der Schwere der Erkrankungen zwar hinter Delta, aber vor dem Wuhan-Virus und sogar vor Alpha liegt, das uns vor einem Jahr das Leben so schwergemacht hat. Und obwohl Omikron in den USA Rekordwerte an Hospitalisierungen produziert und auch deutlich mehr Todesfälle als während der Deltawelle zu verzeichnen sind.

Auf dieser Grundlage sprechen Entscheidungsträger in Europa offen von einer Durchseuchung der Bevölkerung. Möglicherweise ist das politisch der einfachere Weg. Aber er produziert Abertausende Long-Covid-Erkrankte und füllt schnell die Normalstationen. Etliche Verantwortliche arbeiten engagiert, aber Teile der Bevölkerung sind weggebrochen.

Rekordzahlen

Wir haben Angst, sagt Pflegeleiter Martin. Das ist jetzt eine Welle zu viel. Wir werden bei Omikron zwar mehr Behandlungserfolge haben, wir werden Patienten durchbringen, die frühere Wellen nicht überlebt hätten, aber die Vervielfachung an Infektionen bringt in den USA jetzt schon das Gesundheitssystem ins Wanken.

Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Dänemark sind bei der Entwicklung der Omikron-Welle einige Wochen voraus. Wir brauchen nur hinzuschauen, wie sich die Dinge in den USA, die bei der Impfrate am ehesten mit uns vergleichbar sind, entwickeln: Überlaufene Spitäler, stundenlange Wartezeiten, eine Welle an Patienten im Gesamtsystem, in Teilen des Landes bereits zweimal mehr Schwerkranke pro Pfleger – das führt zu Fehlern und einem starken Verlust an Behandlungsqualität.

Warum legt Europa angesichts dieser Erfahrungen nicht sofort eine Vollbremsung hin? Warum kommen die Demonstranten nicht endlich zur Vernunft? Die letzten Tage haben Rekordzahlen gebracht: Weltweit waren es 9,5 Millionen Neuinfektionen in der letzten Woche des Jahres 2021.

Von außen nicht wahrnehmbar

Das Dramatische ist, dass man den Kollaps eines Gesundheitssystems von außen nicht sieht, ergänzt Kathrin Hinz. Das ist kein Knall und Spitäler stürzen ein, sondern eine vielfach von außen nicht wahrnehmbare Entwicklung, eine schleichende Verschlechterung der Versorgung und Behandlung, eine sich langsam aufbauende Welle an Kündigungen wegen der andauernden Überlastung, ein Aufweichen von Kontrollen und Qualität. Die Kollegen aus den USA schreiben auf Twitter klar und deutlich, dass in etlichen Spitälern die Standards gesenkt werden und auf eine Art Notbetrieb umgeschaltet wird.

Wir haben in vielen EU-Staaten ein großartiges Gesundheitssystem, und wir schützen es nicht genug, damit es allen helfen kann – warum nur? Wie dumm muss man sein, um vor Spitälern gegen unsere Arbeit und gegen Impfungen zu demonstrieren? Wie verrückt muss man sein, sich selbst zu infizieren, um sich nicht impfen lassen zu müssen? Was ist das für eine Gesellschaft?

DER STANDARD

Martin nimmt Kathrin in den Arm und tröstet sie. So kennt er sie nicht, die Kollegin mit der unbeugsamen Zuversicht. Er selbst hat Tränen in den Augen. Tränen der Erschöpfung, der Enttäuschung. Tränen aus Angst vor dem, was kommen wird. Es ist auch die Unsicherheit, der Verlust der Sicherheit in ihrer Arbeit, der sie zermürbt. Während die Leugner immer offensiver werden, resignieren einzelne Länder und beschließen Öffnungen trotz Infektionsrekorden. Wie groß wird die Welle, die über uns zusammenschlägt?

Es zermürbt

Zum dritten Mal haben die beiden zu Neujahr gemeinsam Nachtdienst auf der Intensivstation. Beim ersten Mal war Covid noch nicht in Europa angekommen, eine Nacht normaler Arbeit. Ein Jahr später befand sich das Land am Auslaufen der dramatischen zweiten Welle und am Beginn der Impfungen. Ein Jahreswechsel voller Hoffnung. Heute ein Jahreswechsel mit vierter und fünfter Welle, mit hohen Infektionszahlen und einem Teil der Bevölkerung, der gegen Schutz und Beschützer demonstriert. Es zermürbt. (…)

Was denken sich die Schwurbler eigentlich, entfährt es Kathrin noch einmal, was denken die, was das alles mit uns macht? Was es heißt, wenn dich ein bärenstarker junger Mann anfleht, ihn da wieder rauszuholen, bevor du ihn intubierst? Wenn du wochenlang um sein Leben kämpfst und die Seuche am Ende doch siegt? Sterben, seit zwei Jahren nur mehr Sterben. Und immer mehr Aussichtslosigkeit. Du gehst an manchen Tagen verzweifelt nach Hause und am Morgen wieder verzweifelt in die Arbeit. Dabei haben wir Erfolge, wir konnten die Sterbequote von den fünfzig Prozent in der ersten Welle auf etwas über vierzig Prozent in der dritten und vierten drücken. Aber das ist nur mit einem erbitterten Kampf um jedes einzelne Leben zu bewerkstelligen, mit einem Grenzgang zwischen Tod und Leben, der manchmal zwei Wochen dauert, manchmal drei Wochen, manchmal monatelang. Covid-Fälle liegen im Schnitt viermal länger auf Intensiv als Patienten mit anderen Erkrankungen, das schränkt unsere Aufnahmekapazitäten zusätzlich stark ein. Da kannst du im Dienst nicht zwischendurch etwas ruhigere Minuten einbauen, da hat jede kleine Unaufmerksamkeit fatale Konsequenzen. Seit fast zwei Jahren arbeiten wir so. Und was machen manche Leute? Sie könnten sich mit der Impfung schützen, tun es aber nicht, weil sie sich irgendeinen Unsinn einreden lassen. Sie demonstrierten vor den Spitälern! Erst wenn sie hier liegen, kommen sie drauf. Ich habe mich so geirrt, heißt es dann. Aber dann ist es oft zu spät.

Rudi Anschober, "Pandemia". 24,– Euro / 272 Seiten. Zsolnay, 2022
Cover: Zsolnay-Verlag

Missbrauch der Not

Es sind nicht alle so, versucht sie der Pfleger zu beruhigen, die meisten Leute lassen sich ja doch impfen und machen mit bei den Schutzmaßnahmen. Die überwältigende Mehrheit handelt verantwortungsvoll. Aber es stimmt, es sind viele, aber zu wenige, und sie sind zu leise. Gestern hat mir eine Freundin ein Video von einem amtsbekannten Rechtsextremisten gemailt, in dem er über angebliche Corona-Lügen in den Spitälern spricht, über eine Corona-Diktatur in unserem Land und einen notwendigen Aufstand.

Früher dachte ich, unsere Demokratie hält diese Idioten aus. Heute weiß ich, dass das falsch ist: Diese Leute missbrauchen die Not der Menschen, um die Gesellschaft zu unterwandern, das System zu stürzen. Und wir zahlen die Zeche. Wir hier in den Spitälern. Wenn das alles irgendwann vorbei ist, werde ich mich einmischen. Denen dürfen wir unsere Gesellschaft nicht überlassen. Wenn einer lügt, hetzt und Menschen durch falsche Versprechungen in die Krankheit führt, dann darf man nicht mehr darüber lächeln und weitergehen, man muss widersprechen, es dokumentieren und anzeigen. Ich wirke immer so ruhig, aber innerlich koche ich.

Kathrin wird hellhörig angesichts der ungewohnten Worte des sonst so ruhigen Martin.

Nur mehr ein paar Minuten bis Mitternacht. Das ganze Team hat sich versammelt, um sich ein gutes neues Jahr zu wünschen. Draußen vor dem Krankenhaus baut sich der Lärmpegel tausender Knallkörper auf, am Horizont glitzern unzählige Feuerwerksraketen, Rauchschwaden steigen auf. Bis nach Mitternacht werden es immer mehr, sie werden lauter, heller, chaotischer, die Intensität des Lärms nimmt zu und ebbt dann leicht ab, steigert sich wieder und klingt dann langsam ab. Ein neues Jahr hat begonnen. Was wird es bringen? Das Ende der Pandemie? Die Kontrolle des Virus? Noch mehr böse Überraschungen? (Rudolf Anschober, ALBUM, 2.4.2022)