Wenn Sie entscheiden müssten, ob Österreich aus dem russischen Gas aussteigen soll, wie würde die Entscheidung ausschauen? Würden Sie der Ukraine eine EU-Perspektive geben, und wie viel Geld würde das Bundesheer von Ihnen bekommen? Und vielleicht am wichtigsten: Welche Informationen bräuchten Sie, um diese Entscheidungen treffen zu können?

In ruhigen Zeiten beantworten Demokratien solche Fragen in langsamen Prozessen, an denen Exekutive und Legislative beteiligt sind. In Krisenzeiten ist das anders. Es braucht schnelle Antworten. Und zwar nicht nur bei den Sofortmaßnahmen, die die Folgen abmildern sollen. Sondern auch bei den Weichenstellungen, die eine Wiederholung der Krise verhindern sollen. Die Politik muss gleichzeitig Feuer löschen und neue Regeln für den Brandschutz erlassen. Oft sogar bevor die Ursache für das Feuer mit Sicherheit geklärt ist.

Die Langzeitabschätzung der Folgen gelingt nicht immer. 2012 rettete Mario Draghi, damals Chef der Europäischen Zentralbank, mit seinem berühmten Satz, man werde "alles Notwendige" ("whatever it takes") tun, um den Euro zu retten, wahrscheinlich die gemeinsame Währung.

Die Zentralbank begab sich damit aber auch auf einen Weg der Niedrigzinspolitik, aus der man bis heute keinen Ausweg gefunden hat. Mittlerweile wissen wir auch, dass Staaten, die in der Finanzkrise 2009 Teile ihres Bankensektors pleitegehen ließen, heute besser dastehen – auch wenn die Wirtschaft zunächst stärker einbrach.

Unklare Evidenz

Bei langfristigen Entscheidungen unter Druck können eine Menge Probleme auftreten. Manchmal kann man die Folgen einfach noch nicht genau genug abschätzen, die Evidenz ist also (noch) nicht klar. Manchmal haben Instrumente, mit denen Folgen einer Krise abgefedert werden sollen, an anderer Stelle negative Auswirkungen. Und manchmal ändern sich nach einer Entscheidung die Parameter.

Die Frage, ob Österreich, ob Europa vollständig auf russisches Gas und Öl verzichten sollte, ist eine moralische wie eine sicherheitspolitische. Aber es gibt auch eine ganz praktische: Was kostet das?

Die Langzeitabschätzung der Folgen politischer Entscheidungen gelingt nicht immer.
Illustration: Fatih Aidogdu

In internationale Lieferketten eingebundene Volkswirtschaften sind komplexe Gebilde. Wenn Ökonomen wissen wollen, welche wirtschaftlichen Folgen eine hypothetische Politikänderung haben könnte, benutzen sie dafür stark abstrakte Modelle, um die Folgen zu berechnen. Für Deutschland, das, ähnlich wie Österreich, stark von russischen Gas- und Öllieferungen abhängig ist, hat eine Gruppe von Wissenschaftern zuletzt durchgerechnet, was ein Energieimportstopp kosten würde. Die Ökonomen kamen auf einen Einbruch von 0,5 bis drei Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP).

Verschiedene Szenarien

"Das ist natürlich eine große Spannbreite", erklärt Rüdiger Bachmann von der University of Notre Dame in den USA, einer der beteiligten Wissenschafter. Es sei aber auch nicht darum gegangen, eine Konjunkturprognose zu geben, sondern verschiedene Szenarien durchzurechnen, um ein Gefühl für die Größenordnungen zu bekommen.

Die ökonomischen Modelle würden zeigen, dass die Angst vor Massenarbeitslosigkeit wahrscheinlich übertrieben sei. "Ob der Abschwung in der Realität am Ende minus zwei, minus drei oder minus fünf Punkte des BIP betragen würde, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen."

Österreich würde ein Ausstieg aus russischem Öl und Gas nach Berechnungen der Industriellenvereinigung ein Minus von 3,3 Prozent des BIP bescheren. Das sind große Zahlen, aber keine, die Deutschland oder Österreich zusammenbrechen lassen würden. In der Corona-Pandemie ging das BIP um vier Prozent zurück. Mit entsprechenden Begleitmaßnahmen wie Kurzarbeit, die sich reiche Volkswirtschaften leisten können, lässt sich so was abfedern.

Unklare Folgen

Das Ganze birgt aber, das muss man dazusagen, Unsicherheitsfaktoren. "Jedes Modell hat blinde Flecken, bildet also nicht alle Faktoren ab", sagt Bachmann, man solle sich deshalb nicht auf ein Modell verlassen. Und es gibt natürlich auch im Prinzip immer die Möglichkeit, dass eine Berechnung methodische Fehler enthält, gerade auf so unbekanntem Terrain. Die Arbeit wird unter Ökonomen kontrovers diskutiert.

Der Knackpunkt dieser Diskussion ist meist die chemische Industrie, die eher am Anfang einer Wertschöpfungskette steht und Gas nicht nur als Energielieferant, sondern auch als Rohstoff braucht. Zwar sind in den Modellen temporäre Stilllegungen ganzer Industriezweige einkalkuliert. Andere Ökonomen befürchten aber, dass diese Effekte nicht stark genug abgebildet werden. In den Berechnungen anderer Institute war der Einbruch stärker.

Nur damit das klar ist: Wissenschaftlich gesehen ist das kein Problem. Ökonomen veröffentlichen ihre Berechnungen, andere Ökonomen kritisieren diese. Das bringt alle weiter. Aber für eine Politik, die darauf aufbauend evidenzbasierte Entscheidungen treffen soll, ist so eine Unsicherheit natürlich weniger gut.

Verschiedene Ackerflächen

Am 23. März fasste "die EU" (genauer: die Kommission auf Anregung des Rates) einen vermeintlich kleinen Beschluss, den man problemlos übersehen könnte. Aufgrund der drohenden Ernährungskrise – die Ukraine ist ein großer Exporteur von Getreide – werden die Biodiversitätsflächen in der EU für 2022 "eingeackert", sie dürfen also wirtschaftlich genutzt werden.

Die Ukraine ist ein großer Exporteur von Getreide.
Foto: APA / Sebastian Willnow

Dahinter versteckt sich, man ahnt es, eine komplizierte Sache. Grob vereinfacht: Will ein europäischer Landwirt Geld aus dem ersten Topf der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU bekommen, muss er mindestens vier Prozent seiner Ackerflächen als "Biodiversitätsfläche" brachliegen lassen. Will er darüber hinaus auch noch Geld aus dem zweiten Topf, muss er sich strengeren Regeln für eine umweltschonende Bewirtschaftung unterwerfen. In Österreich sind es dann zum Beispiel sieben statt vier Prozent Brache.

Dass die vorgeschriebenen vier Prozent Biodiversitätsfläche jetzt zum Getreideanbau genutzt werden dürfen, klingt erst einmal plausibel. Mehr Angebot drückt den Preis und verringert die Chance auf Hunger in Ländern, die stark auf ukrainische Importe setzen.

"Ein Großteil des Getreides, das die FAO (die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN, Anm.) einsetzt, kommt aus der Ukraine", sagt Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger. "Diese Ausfälle müssen kompensiert werden." Daher begrüße sie die Entscheidung, die auf Vorschlag des französischen Ratsvorsitzes eingebracht wurde. 2023 müsse man die Situation neu bewerten. Nicht alle sehen das so.

"Gute Biodiversitätsflächen sind nicht einfach nur ein Stück Acker, auf dem man gerade nichts anbaut", sagt Helmut Burtscher-Schaden, Biochemiker bei Global 2000. Es seien meist seit Jahren ungenutzte Flächen mit Hecken und Bäumen. "Wenn man die nutzbar macht, sind sie erst einmal verloren." Das werfe die Welt im Kampf um Ernährungssicherheit und Wiederherstellung der biologischen Vielfalt um Jahre zurück. "Biodiversität zu opfern, um Ernährungssicherheit herzustellen, ist wie sein Haus anzuzünden, weil einem kalt ist."

Unklare Zukunft

Wie viel die Freigabe tatsächlich bringt, ist fraglich. Landwirte lassen für gewöhnlich nicht ihre produktivsten Flächen brachliegen. Viele NGOs sehen den sinnvolleren Ansatzpunkt in der Verwendung des Getreides: In der EU werden knapp zwei Drittel verfüttert, ein Drittel wandert in den menschlichen Verzehr. In der Umweltszene sieht man Lobbyorganisationen am Werk.

Landwirtschaftspolitische Vertreter würden die Sorge um Ernährungssicherheit nutzen, um "mühsam erreichte ökologische Vorgaben für die Landbewirtschaftung aufzuweichen", beschwerte sich der Naturschutzbund. Dazu passt, dass die Präsentation eines EU-weiten Renaturierungsgesetzes, die für den 23. März geplant war, mit Verweis auf die Ukraine-Krise kurzfristig verschoben wurde.

Werden Biodiversitätsflächen eingeackert, sind sie erst einmal verloren.
Foto: Imago / Arnulf Hettrich

Am 11. März 2011 trafen ein Erdbeben und ein durch das Erbeben ausgelöster Tsunami ein Kernkraftwerk in Fukushima. In der Folge peitschte die schwarz-gelbe Regierung unter Angela Merkel innerhalb von dreieinhalb Monaten den Atomausstieg bis Ende 2022 durch. Und vollzog damit eine 180-Grad-Wendung: Ein Jahr zuvor hatte die Regierung, wie im Wahlkampf 2009 versprochen, noch eine Laufzeitverlängerung garantiert.

Historische Entscheidung

Die historische Entscheidung war damals, im Windschatten von Fukushima, kaum umstritten. Im Bundestag stimmten 513 der damals 600 an der Abstimmung teilnehmenden Abgeordneten zu. In den Jahren danach traten Zweifel auf. In der Diskussion um die Reduktion von CO2-Emissionen verwiesen viele darauf, dass Deutschland seine Ziele mit Kernkraft deutlich leichter erreichen könne und der Atomausstieg international ein Sonderfall sei.

Der Ukraine-Krieg gab denen, die den Atomausstieg für einen historischen Fehler hielten, neuen Auftrieb. Es gab Appelle an Energieminister Robert Habeck, zumindest drei mit Ende 2021 abgeschaltete Atomkraftwerke wieder hochzufahren. Habeck erteilte dem eine Absage: Bei den Anlagen sei so lange auf Abschaltung hin geplant worden, dass eine Wiederinbetriebnahme nichts mehr bringe.

Gleichzeitig stellte der Grüne aber in Aussicht, dass man die Laufzeit der Kohlekraftwerke verlängern müsse. So führt eine Entscheidung aus dem Jahr 2011 dazu, dass es im Jahr 2022 nur zwei schlechte Optionen gibt: Man verbrennt mehr Kohle oder importiert weiter russisches Gas. Ein Ausbau von erneuerbaren Energien würde nur mittelfristig helfen.

Nach rund 36 Jahren ging das Kernkraftwerk im Weserbergland bei Hameln am 31. Dezember 2021 endgültig vom Netz.
Foto: APA / dpa / Julian Stratenschulte

Niemand kann sagen, ob die Entscheidung anders getroffen worden wäre, wäre die Situation von heute damals bekannt gewesen. Klar ist aber, dass viele Fragen Abwägungsfragen sind, die nach bestimmten Parametern getroffen werden. Die können sich aber verändern: Russland ist spätestens jetzt kein zuverlässiger Partner mehr.

Heute weiß man noch besser, wie dringend nötig eine schnelle Reduktion der Treibhausgase ist. "Der Atomausstieg ist ein Relikt der Zeit, als man kaum übers Klima sprach", schrieb die Zeit im Dezember 2021. Vielleicht hätte ein wenig mehr Überlegung nicht geschadet. Das erscheint übrigens nicht nur in der Rückschau logisch: Schon 2011 sagten immerhin 46 Prozent der Deutschen, man hätte sich mehr Zeit lassen sollen.

Schwieriges Verhältnis

Richten soll es in solchen Fällen meistens die wissenschaftliche Politikberatung. Also Wissenschafter, die der Politik ihre Expertise zur Verfügung stellen, damit diese "evidenzbasierte" Entscheidungen treffen kann. In ruhigeren Zeiten passiert sie meist über Auftragsstudien oder im Zuge von gesetzlich fixierten Gremien wie dem Wirtschaftspolitischen Beirat der Sozialpartner.

In der Corona-Krise zeigte sich aber offen, wie schwierig das Verhältnis sein kann. Der Ton zwischen Politik und Experten war zwischenzeitlich rau. Den einen waren die Prognosen nicht genau genug, die anderen fühlten sich benutzt. Für Wissenschaftsforscher Thomas König vom Institut für Höhere Studien (IHS) liegt das Problem tiefer. "In Österreich haben wir keine Tradition klar geregelter wissenschaftlicher Politikberatung."

Viele Länder wie Neuseeland hätten einen Scientific Advisor, in UK gebe es eine Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE), die nach einem festgelegten Mechanismus in Krisenzeiten zusammentritt. In Österreich neige man dazu, im Krisenfall Ad-hoc-Gremien mit unklarer Aufgabe aus dem Boden zu stampfen.

DER STANDARD

"Diese Gremien können sich dann nicht auf ihre Arbeit konzentrieren, weil sie gleichzeitig sofort auch in Konkurrenz zu anderen Gremien stehen", sagt König. Und natürlich stelle sich auch die Frage der demokratischen Legitimation. "Wenn sich der Eindruck einstellt, dass ein Gremium, das es vorher nicht gab, die wichtigsten Entscheidungen trifft, kann ich verstehen, wenn Menschen das hinterfragen".

Kein Allheilmittel

Sinnvolle Politikberatung brauche Strukturen, sagt König. Zum Beispiel dauerhafte Boundary-Institutions, also Institutionen an der Schnittstelle von Politik und Wissenschaft mit klarer Beschreibung der Aufgaben und Regeln zu Besetzung und Abgrenzung zu anderen Gremien. Das sei natürlich kein Allheilmittel.

Auch die Arbeit von SAGE wurde kritisiert, gerade zu Beginn der Pandemie. "Keine noch so gute Struktur kann wissenschaftliche Unklarheiten beseitigen." Aber durch eine geregelte Infrastruktur mit klaren Regeln und transparenter Entscheidungsfindung wisse zumindest jeder, woran er sei, und niemand könne sich am anderen abputzen.

"Langfristige Themen sollten in Kommissionen behandelt werden", sagt auch Wolfgang Mazal. Der Professor an der Uni Wien berät seit Jahrzehnten Österreichs Politik. In ruhigen Zeiten könnten diese Wissen und Instrumente entwickeln, auf die in der Krise zurückgegriffen werden könne. Austausch sei essenziell, aber auch klare Grenzziehung. "Mir war immer wichtig zu betonen: Als Wissenschafter kann ich Vorschläge machen, habe aber keinen Anspruch darauf, dass die Politik sie umsetzt." Politiker seien demokratisch legitimiert, die Wissenschaft sei das nicht. "Aber die Politik muss dann die Verantwortung übernehmen." Auch für die Langzeitfolgen. (Jonas Vogt, 2.4.2022)