
Bei der Hälfte der Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren zeigen sich depressive Symptome. Das sind zehnmal so viele wie vor Corona. – Studie der Donau-Uni Krems
In Lauras Zimmer blieb es dunkel. Die Sonne war längst untergegangen, doch im Türspalt zeichnete sich kein heller Streifen ab. Mit jedem Tag tat sich die Tochter schwerer, aus dem Bett zu kommen, nun sparte sie sich selbst den Griff zum Lichtschalter. "Da war uns erstmals klar, dass etwas nicht stimmt", sagt Vater Paul: "Ich hatte den Eindruck, jetzt driftet sie uns weg."
Lauras Eltern haben sich nicht getäuscht. Heute, zwei Jahre später, erkennt sich die Familie in Berichten über jene Epidemie wieder, die sich im Schatten von Corona eingeschlichen hat. Fachleute registrieren einen massiven Zuwachs an psychischen Krankheiten, das gilt besonders für Jugendliche. Laut einer Befragung der Donau-Uni Krems verspürt etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler zwischen 14 und 20 Jahren Angstzustände oder depressive Symptome. Unter Schlafstörungen leidet ein Viertel.
"Wir hatten immer das Gefühl, so etwas passiert nur den anderen", sagt Paul S. Eigentumswohnung in einem durchgrünten Außenbezirk, die Eltern in White-Collar-Jobs, die Kinder – wie in Akademikerhaushalten üblich – im Gymnasium: Die Familie erfüllte das Klischee der grundsoliden Mittelschichtsfamilie. Doch dann begann das Virus, das scheinbar so feste Gefüge auszuhebeln.
Unheilvoller Effekt
Der virtuelle Tratsch mit den Freundinnen half Laura über die ersten Lockdowntage im März 2020 hinweg, doch rasch war der Reiz verflogen. Worüber soll man schon chatten, wenn man nichts erlebt? Bald kroch sie nicht einmal zum Frühstück aus Bett und Pyjama.
Homeschooling bot erst recht keinen Anlass. Wie ein Podcast im Hintergrund sei der Unterricht dahingerieselt – wenn boshafte Mitschüler technisch überforderte Lehrer nicht gerade aus der Konferenz gekickt hatten. Sie habe nicht zugehört, nichts gelernt, erzählt die 16-Jährige. "Allmählich habe ich mich in Gedanken verloren."
Vom Fortgehen bis zum ersten Verlieben, vom Mannschaftssport bis zur Maturareise: Die Pandemie habe Jugendlichen vieles genommen, was das Leben lebenswert mache, sagt Christoph Pieh von der Donau-Uni Krems, dazu komme der unheilvolle Effekt sprunghaft gestiegener Bildschirmzeit. Jede Stunde mehr am Smartphone nähre die psychischen Belastungen.
Als besonders gefährdet stuft der Gesundheitsforscher Pubertierende ein, denen die Lockdowns die Chance raubten, sich abzunabeln. Statt ersehnter Schritte in die Freiheit und einer eigenen Identität spielte es mehr elterliche Kontrolle denn je.
Gefühlt wie ein Monster
Maßlos hat sich Laura geärgert, wenn die Mama ins Zimmer geplatzt ist, um die Tochter wenigstens zum Duschen aus den Federn zu stampern – und auch die Aufarbeitung in Gegenwart des STANDARD verläuft nicht spannungsfrei. Als die Versionen der Ereignisse auseinanderdriften, schleudert Laura schon einmal ein "Bullshit" über den Tisch der Wohnküche, was die Eltern aber nicht aus der Reserve lockt. Mutter Karin reagiert mit weise kalkulierter Ruhe, Vater Paul packt den Teenager mit Schmäh: "Wenn man sein Kind trotz aller Unvollkommenheit nicht so abartig lieben würde!"
Nach der ersten Welle war es mit dem Eingesperrtsein vorerst vorbei, doch das Virus holte die Familie immer wieder ein. Viermal in zwei Jahren kamen Lockdowns und Quarantänen einem Urlaub in die Quere – und da ist noch nicht die Episode vom Wörthersee eingerechnet. Weil ein Freund – wie sich später zeigte, fälschlicherweise – positiv getestet wurde, musste der Sohn in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, abgeschottet im Zug, heimgeholt werden. Er habe sich wie ein Monster gefühlt, sagte der damals Zehnjährige.
Der folgende Herbst ließ sich nicht nur wegen steigender Infektionsraten unheilvoll an. Querelen um einen Burschen, der sie im Sommer belästigt hatte, machten Laura zum Schulgespräch. Wieder schaffte sie es kaum aus dem Bett: "Ich hatte keine Kraft, keine Energie."
Pakt geschlossen
Im November fiel die geliebte Oma als Halt aus. Ins Spital eingeliefert wurde die damals 84-Jährige mit einem Oberschenkelhalsbruch – geblieben ist sie wegen einer nach der Operation aufgetretenen Covid-Infektion. Als sie drei Tage vor Weihnachten auf die Lungenabteilung verlegt wurde, fragte Sohn Paul nach, für wie lange. Antwort des Arztes: "Wir schauen einmal, dass wir sie durch die Nacht bringen."
Was gefolgt sei, erzählt Paul, "machst du ein paar Wochen mit, aber nicht über Monate. Irgendwann konnte ich nicht mehr." Von einer Abteilung auf die andere wurde die Patientin verlegt, begleitet von unzähligen Ärztegesprächen und Formalitäten. Dreimal beorderte das Spital den Sohn eilig herbei – zur endgültigen Verabschiedung.
Alleingelassen hat sich Laura in dieser Zeit gefühlt, die Mama habe sich halt viel um den Papa kümmern müssen. Damals habe sie einen Pakt geschlossen: Lebt die Oma nicht weiter, will ich auch sterben.
Die Großmutter überlebte – doch geblieben, sagt Paul, sei "nur noch ein Restbestand, der uns an sie erinnert". Als im März endlich wieder die ganze Familie zu ihr konnte, lag dort ein anderer Mensch. Weil Covid die Remobilisierung verschleppt hatte, kam die alte Frau nie mehr auf die Beine, dazu hatte Demenz gegriffen. "Das Wiedersehen nach vier Monaten war erschreckend", erzählt Schwiegertochter Karin: "Sie war nicht mehr sie selbst."
Es war in einer der Nächte danach, als Karin ihren Mann weckte. Laura hatte ihr eben erzählt, Tabletten geschluckt zu haben. Dem Anruf bei der Rettung folgte ein Kampf. Die Fahrer wollten die Mutter wegen der Covid-Regeln nicht mit in den Wagen steigen lassen.
Scheinbar letzter Ausweg
Sieben Stück eines Schmerzmittels hatte Laura eingenommen, weit weg von einer gefährlichen Dosis. Die Ärzte im Krankenhaus nahmen den Suizidversuch dennoch sehr ernst. Es folgten reihenweise Tests, Diagnosen, Therapien, verbunden mit viel Warterei. Trotz starker Auslastung kann Familie S. über das Personal aber nur das Beste sagen.
Doch bei allem Einsatz: Rundum fehle es jungen Menschen in Notlage an Unterstützung, bekritteln Fachleute. Am besten aufgestellt seien noch Ersthilfeangebote wie die Telefonberatung Rat auf Draht, sagt Forscher Pieh. An Psychotherapeuten und Schulpsychologen fehle es hingegen ebenso wie an psychiatrischer Versorgung. Neue Lücke in Wien: Wie DER STANDARD berichtete, will die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Klinik Hietzing mangels Personals künftig übers Wochenende schließen.
Angesichts der Tatsache, dass einschlägige Störungen bei der Jugend heute fünf- bis zehnmal so häufig auftreten würden wie vor Corona, dürfe aber nicht erst bei der Behandlung angesetzt werden, sagt Pieh – sondern etwa auch bei der Aufklärung in der Schule, dass psychische Probleme keine Schande seien.
An der Schule ihrer Kinder höre das Verständnis mitunter aber viel früher auf, sagt Karin. So mancher Lehrer mache mit dem Stoff ungerührt weiter, als ob Homeschooling nicht bloß eine Farce gewesen sei. 400 Euro im Monat koste die Nachhilfe für beide Sprösslinge mittlerweile – "doch was ist mit jenen, die sich das nicht leisten können? Das betrifft ja eine ganze Generation."
Geblieben sind die Pillen
Abhängen im Stadtpark, auf dem Karlsplatz oder "Zwidemu", wie Teenager den Maria-Theresien-Platz zwischen den Museen nennen: Der zweite Sommer der Pandemie startete für Laura vielversprechend – und mündete doch in einer neuerlichen Eskalation. Da aber legt Karin ein Veto ein, in der Zeitung will sie darüber nicht lesen. "Falsche Freundschaften", wie es Laura nennt, endeten auf dem Polizeikommissariat. "Du hast jetzt einen Monat Hausarrest", verfügte die resolute Beamtin – "und keiner von uns", sagt Vater Paul grinsend, "hätte zu widersprechen gewagt".
Außergewöhnliche Erfahrungen? Familie S. glaubt das nicht. "In der Schule haben wir alle etwas davongetragen", sagt Laura. Eine Freundin liege mit Essstörungen im AKH, eine andere habe ebenfalls Tabletten geschluckt. Aber gleich 30.
Für sie selbst gehe es mittlerweile wieder aufwärts, erzählt die Familie. Nach einem halben Jahr Suche hat Laura eine Therapeutin gefunden, mit der sie etwas anfangen kann, und auch Paul beginnt sich mit der Situation zu versöhnen,
Geblieben sind die Pillen. Beide nehmen Psychopharmaka, der Vater schluckt auch noch etwas gegen hohen Blutdruck und zum Schlafen. "Jeden Morgen zücken Laura und ich die Medikamentendoserln", sagt Paul, "und prosten einander zu Karins schlecht verhohlenem Ärger zu." (Gerald John, 3.4.2022)