Ein weithin sichtbarer blutroter Nachthimmel zeugt von Gefechten in der Ferne (Charkiw im Nordosten der Ukraine).

Foto: AFP / Fadel Senna

Ruhe? Das ist in der Ukraine etwas Relatives. Dennoch habe ich fast drei Wochen lang so etwas Ähnliches in einem Dorf in der Oblast Schytomyr gefunden – hier in der Provinz, zwei Autostunden westlich der Hauptstadt Kiew, die ich am dritten Tag der russischen Invasion verlassen musste.

Weiter oben im Norden, nahe der Grenze zu Belarus, hatte es von Anfang an harte Kämpfe gegeben. Und auch die gleichnamige Hauptstadt der Oblast Schytomyr wurde mehrmals aus der Luft angegriffen, so wie auch eine ukrainische Militäreinrichtung in einer anderen Stadt, rund 65 Kilometer von uns entfernt.

Hier aber war es ruhig. Zumindest relativ. Zwar waren immer wieder Flugzeuge und Hubschrauber zu hören, aber wenn ich in der Nacht aus dem Fenster schaute, sah ich in weiter Ferne bloß einen rot leuchtenden Himmel, hörte aber nicht die Explosionen, bekam auch nichts von den Kämpfen mit.

Mein Dorf liegt abseits, den Luftalarm für Schytomyr konnte man eigentlich ignorieren. Sirenen gab es nicht, oder vielleicht funktionierten sie bloß nicht. Hauptsache, sie kamen als Nachricht auf dem Handy an.

Weg aus der Hauptstadt

Wir hatten Kiew kaum verlassen und waren noch auf dem Weg in die Provinz, da mussten wir in unserer Gruppe von Journalisten über die Medienberichte witzeln, denen zufolge die ukrainische Bevölkerung die Straßen in ihrer unmittelbaren Umgebung vorsätzlich zerstören würde, damit für die Russen kein Weiterkommen ist: Der sogenannte Große Bau, das Prestigeprojekt von Präsident Wolodymyr Selenskyj vor dem Krieg, mag ja zum Ziel gehabt haben, die Qualität der Straßen im ganzen Land zu verbessern. Doch diese Sträßchen hier waren mit Sicherheit nicht vom großen Bauvorhaben betroffen.

Bei Luftangriffen im westukrainischen Lwiw sucht die Bevölkerung Schutz in alten Bunkernaus dem Zweiten Weltkrieg.
Foto: Imago / ZUMA Wire / Mykola Tys

In den ersten Kriegstagen konnte ich in Kiew nicht richtig arbeiten, hier in der Provinz musste ich mich aber geradewegs dazu zwingen. Außer Journalismus kann ich wenig bis gar nichts – also leiste ich meinen Beitrag, indem ich bestmöglich von der Realität in der Ukraine berichte. Nicht nur für mein angestammtes Publikum, auch darüber hinaus.

Eine der großen Herausforderungen dabei war und ist, das in Kiew Erlebte zu verarbeiten. Und zwar für mich selbst. Erst im Nachhinein, nach dem ersten Schock, begriff ich, wie gefährlich einige Situationen eigentlich waren – etwa als ein Kollege und ich gleich am ersten Kriegsmorgen in eine Schießerei gerieten, zufällig während ich einen Podcast für den STANDARD aufzeichnete.

Familie auf der Flucht

Hier im Dorf konnte ich vielleicht den Luftalarm ignorieren, doch der Krieg wurde sehr präsent, als diese Familie aus Borodjanka hier ankam: Die Mutter, der Vater und der fünfjährige Sohn mussten vor den Kämpfen in der Vorstadt von Kiew fliehen. Tagelang versuchte dann Julia, die Großmutter davon zu überzeugen, ebenfalls zu fliehen – anfangs vergeblich.

Dazu kam, dass sie sie plötzlich wegen Ausfällen des Mobilfunknetzes nur noch selten erreichen konnte. Schließlich, nach anderthalb Wochen im Keller mit nichts außer altem Brot, konnte die Großmutter doch über einen humanitären Korridor die Stadt verlassen. An diesem ersten gemeinsamen Abend schwieg sie fast nur – deutlich gezeichnet vom Erlebten.

Und da waren die Schreckensnachrichten: solche von gezielten Schüssen auf Autos von Zivilisten, solche von Gräueltaten der tschetschenischen Kampfverbände rund um deren Machthaber Ramsan Kadyrow. Ob das alles auch wirklich faktisch stimmt? Ich weiß es nicht. Doch selbst wenn nur ein Viertel des Erzählten tatsächlich so passiert ist, ist es viel schlimmer als bloß schlimm.

Keine Fragen mehr

Hier offenbarte sich mir ein weiteres Problem, das mich später in Lwiw auch noch beschäftigen sollte, als ich mit mehreren Kollegen sprach, die aus der fast völlig zerstörten Stadt Mariupol flüchten konnten: Ich hatte plötzlich eine mentale Blockade, ich konnte und wollte nicht zu viel nachfragen.

Eigentlich wollte ich manchmal überhaupt keine Fragen mehr stellen. Denn eigentlich wusste ich ohnehin, wie es ihnen geht – trotz meiner im Vergleich zu ihnen doch ziemlich privilegierten Position hier im Hinterland des Krieges.

In Lwiw verkauft ein Mädchen Blumen für die "Verteidiger der Heimat".
Foto: EPA / Mykola Tys

Mitte März feierte ich im Dorf meinen 29. Geburtstag. 2014 war ich zu Hause in Sewastopol, unmittelbar vor dem "Referendum", das die Annexion der Krim durch Russland einzementierte. Und 2020 kam zwei Tage später ein landesweiter Corona-Lockdown. Doch an diesen Geburtstag des Jahres 2022, der den Umständen entsprechend mit einer selbstgemachten Pizza sogar recht nett wurde, kamen sie alle nicht heran.

Vorbei mit der Ruhe

Vor einer Woche dann, am Freitag, wurde ich von einer Kollegin aus Odessa abgeholt. Wir fuhren weiter nach Lwiw, ich hatte Sorge vor einem kompletten Zusammenbruch der Telekommunikation hier in der Provinz.

Kaum in Lwiw angekommen, war es vorbei mit der Ruhe für meine Kollegen: Drei Tage lang hatte es kaum Luftalarm gegeben, drei Nächte lang hatten sie ruhig schlafen können. Bis ich ankam, oder besser: Bis es auch hier in der Nähe des Flughafens einen Luftangriff gab. Und einen weiteren auf eine militärische Ausbildungseinrichtung nahe der polnischen Grenze. "Du bist Schuld!", scherzte ein Journalist. "Du bist angekommen, und jetzt geht es los!", scherzte am Samstag ein weiterer Kollege, nachdem die Russen ein Treibstofflager und eine Kaserne mit Raketen zerbombt hatten.

DER STANDARD

Schwarzer Humor ist in diesen Tagen nicht wegzudenken. Etwa als wir in den Luftschutzkeller liefen: Wir mussten uns gegenseitig beruhigen, damit wir nicht andere Menschen belästigen. Halb so schlimm, wie sich herausstellte: Die Stimmung war meistens ohnehin recht gut. Einmal brachten ein paar Burschen eine Gitarre mit und sangen ukrainische Lieder. Und das machten sie gut. Richtig gut.

Am Sonntag, nach den Luftangriffen, ging das Leben in Lwiw dann fast normal weiter. Doch dieses Gefühl von Normalität ist trügerischer als je zuvor. In einem Moment ist das Wetter noch sonnig, und man spaziert zum Supermarkt – doch plötzlich sieht man Militärfahrzeuge mit der Zahl "200" vorbeifahren: dem Code für den Transport von Gefallenen.

Welchen Preis werden wir zahlen?

Jetzt, in der sechsten Woche des Krieges, habe ich mich mit der Situation abgefunden. Mich darauf eingestellt, dass dieser Krieg lange dauern wird, dass ich davon berichten muss. Doch manchmal – nein, zugegebenermaßen sogar sehr oft – sitze ich vor einem leeren Bildschirm, der Cursor blinkt. Und ich weiß einfach nicht, was ich schreiben soll. Hier in Lwiw, wo Normalität und Krieg Nachbarn sind, wurde dieses Gefühl sogar noch stärker.

Die Ukraine hat in diesem Krieg noch einen langen Weg vor sich. Ob im Dorf in der Provinz Schytomyr oder in der Metropole Lwiw: Die Menschen geben sich siegessicher – auch wenn es nicht immer klar ist, was mit "Sieg" eigentlich gemeint ist.

Dass die Ukraine den Krieg aber zumindest nicht verlieren wird – das ist eine objektive, realistische Einschätzung. Wie groß der Preis sein wird, den wir zahlen müssen, das ist die Frage, die mir am meisten Sorgen bereitet – wie auch vielen anderen Menschen. Denn ein schneller Kompromiss mit Moskau ist nahezu unmöglich. Das ist fast jedem klar. (Denis Trubetskoy, 2.4.2022)