Nun hat das große Zittern um die Gasversorgung in Europa begonnen. Zum einen stellen mehrere EU-Länder einen Gasboykott in den Raum, aber auch eine andere Bedrohung ist realer geworden: dass Russland als Vergeltung für die harschen Sanktionen des Westens nach dem Einmarsch in der Ukraine den Gashahn komplett zudreht. Insbesondere in der Industrie liegen die Nerven blank.

Gasversorgung bedeutet für tausende Betriebe in Österreich und hunderttausende Unternehmen in Europa Energieversorgung schlechthin. Was früher Öl war, ist heutzutage in vielen Fällen Erdgas – ein Betriebsmittel, das die Wirtschaft am Laufen hält. Speziell bei Produktionsprozessen wie beispielsweise der Erzeugung von Stahl, die Temperaturen von 1000 Grad und mehr erfordern, ist Gas aufgrund seiner Energiedichte schwer ersetzbar – noch jedenfalls. Die Hoffnungen ruhen auf Wasserstoff. Bis diese Energieform aber wirtschaftlich darstellbar ist und vor allem auch in entsprechender Menge zur Verfügung steht, vergehen nach Schätzungen von Experten sicher noch zehn bis 15 Jahre.

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Noch landet viel Gas aus Russland in Europa. Aber wie lange noch?
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Erdgas ist aber auch ein wichtiger Rohstoff zur Herstellung von Düngemitteln – von chemischen Produkten ganz zu schweigen. Ohne Gas keine Chemie, könnte man zugespitzt formulieren. Kunststoffe, Farben, Lacke, Polster und Dämmmaterial – überall steckt Chemie drin. Aber auch in Erzeugnissen, in denen man das gar nie vermuten würde. In Hemden, Hosen oder Jacken etwa stecken im Schnitt 20 Prozent petrochemische Produkte, in Aspirin 30 Prozent, in Hautcremes sogar 40 Prozent. Kein Wunder, dass Branchenvertreter Alarm schlagen und vor dem Verlust zigtausender Arbeitsplätze und einer Beeinträchtigung der Versorgung in vielen Bereichen warnen, wenn es tatsächlich zu einem abrupten Stopp der Gasimporte kommen sollte.

Etwa 40 Prozent der in Österreich verbrauchten knapp neun Milliarden Kubikmeter Gas, die etwa 90 Terawattstunden (TWh) entsprechen, gehen auf das Konto der Industrie. Alle privaten Haushalte zusammen verbrauchen etwa die Hälfte – 20 Prozent. 30 Prozent und damit ebenfalls sehr viel wird in Gaskraftwerken verbraucht, beispielsweise in der Verbund-Großanlage Mellach in der Steiermark oder im Kraftwerk Theiß der EVN.

Wer bekommt wie viel Gas?

Mit Gas laufen aber auch zahlreiche städtische Anlagen, die nicht nur Strom erzeugen, sondern auch Wärme auskoppeln und in Fernwärmenetze einspeisen. Selbst in der Müllverbrennung Wien-Spittelau wird Gas verfeuert, um genug Wärme für Wohnungen und Büros zu erzeugen. Die verbleibenden zehn Prozent verteilen sich auf verschiedene andere Einsatzbereiche.

Innerhalb der Industrie ist es nach Angaben der Statistik Austria der Bereich Papier, der mit 5,9 TWh das meiste Gas in Österreich benötigt. Dahinter folgt die Chemieindustrie mit 5,1 TWh, Stahl mit 4,7 TWh, Stein/Glas (4,4 TWh) und die Lebensmittelindustrie (3,5 TWh). Letztere versammelt neben einigen Großen wie Red Bull, Agrana, Mars und NÖM auch viele klein- und mittelständische Unternehmen. Erst dieser Tage hat der Branchenverband im Namen seiner Mitglieder mehr Transparenz eingefordert, wem wann und wieso das Gas rationiert wird, wenn es hart auf hart geht. Viele der großen Unternehmen haben zwar Notfallpläne in der Schublade, viele der kleinen aber fahren eher auf Sicht. Bereits bei einer Halbierung der Gaszufuhr hätten viele bereits ein Problem.

In vielen Industriebetrieben fürchtet man die Folgen eines Gasboykotts.
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Wer kann, stellt um oder ab oder macht beides. Norske Skog in Bruck an der Mur gehört dazu. Der Papierkonzern mit Hauptsitz in Oslo hat die Produktion in der Steiermark wegen der extrem hohen Energiepreise vorübergehend gestoppt, dann wieder aufgenommen. Noch im April soll ein Reststoffverwertungskessel in Betrieb gehen, von dem sich das Management eine Kosteneinsparung verspricht. Nicht weit entfernt baut der Papier- und Zellstoffkonzern Sappi in Gratkorn bei Graz an einem Biomassekraftwerk, das einen alten Kohlekessel ersetzen soll. Ein plötzlicher Gasstopp bereitet allen die größte Sorge.

Das gilt auch für RHI Magnesita, Weltmarktführer bei besonders hitzeresistenten Materialien zur Auskleidung von Stahl-, Zement- oder Glasöfen. "Wir müssten die Produktion entsprechend zurückfahren, wenn die Gasversorgung rationiert oder ganz gekappt wird", sagte diese Woche Stefan Borgas, CEO des Unternehmens, im STANDARD-Interview. Die Umstellung auf alternative Brennstoffe gehe an Standorten wie Hochfilzen in Tirol relativ flott. Dort könne man Kohle statt Gas einsetzen, das bereite man gerade vor. Anderswo müsse aber erst die entsprechende Infrastruktur aufgebaut werden.

Zugleich wies Borgas darauf hin, dass eine eingeschränkte Rohstoffgewinnung in der Produktionskette auch Auswirkungen auf alle Weiterverarbeitungsstandorte hätte. Und nicht nur das. "Es hätte Auswirkungen auch auf unsere Kunden, die dann ebenfalls eingeschränkt wären in der Produktion, wenn sie unsere Produkte nicht bekommen." Sollte es hart auf hart gehen und tatsächlich kein russisches Gas mehr kommen, dürfe die Politik nicht mit dem Rasenmäher über alle Unternehmen fahren, sondern müsse die individuelle Situation und Auswirkungen auf die Lieferketten berücksichtigen, meint Borgas.

Herunterfahren als Option

Auch der weltweit tätige Baustoffkonzern Wienerberger hat die Lage sondiert, gerechnet, optimiert. "In unseren sechs Mauerziegelwerken und drei Dachziegelwerken in Österreich benötigen wir für den Betrieb der Brennöfen und Trockner Gas. Bei einer Halbierung des aktuell benötigten Gasvolumens könnten wir mit einem entsprechend verminderten Output produzieren. So stellen wir eine bestmögliche Versorgung sicher", sagt Solveig Menard-Galli, COO (Chief Operating Officer) von Wienerberger Building Solutions.

Bei einem Totalstopp der Gaslieferungen reichen bei gleichbleibender Auslastung durch Industrie und Private die Gasspeicher in Österreich laut Ministerium noch bis Ende April. "Wenn danach kein Gas mehr für die produzierenden Unternehmen zur Verfügung steht, müssten wir leider – so wie viele andere – unsere Werke herunterfahren," sagt Menard-Galli.

Auch der Stahl- und Metallverarbeitungsindustrie würde ein Stopp der Gaslieferungen mittelfristig die Geschäftsbasis entziehen. Der Energieträger wird einerseits benötigt, um Öfen zu beheizen, die für die Umformung von Metallen essenziell sind – andererseits als Reduktionsmittel für die Umwandlung von Eisenerz zu Eisenschwamm, der in einem Elektroofen zu Stahl geschmolzen wird.

Irreparable Schäden möglich

Und auch in der Glasindustrie ist Erdgas der mit Abstand wichtigste Energieträger. Eine Unterbrechung der Versorgung hätte fatale Auswirkungen: In einer Glaswanne befinden sich zig Tonnen flüssiges Glas, aus dem Flaschen, Gurken- oder Marmeladegläser, aber auch Flachgläser für Auto- oder Fensterscheiben hergestellt werden. Ohne Energiezufuhr erstarrt das Glas, und die Anlage wird irreparabel zerstört. Weil Gas kurzfristig nicht durch einen anderen Energieträger ersetzbar ist, sei es für Glashersteller essenziell, dass die Gasversorgung aufrechterhalten werde, betont man in der Standesvertretung.

Die keramische Industrie stößt in dasselbe Horn. Erscheine die Unterbrechung der Produktion von Kaffeetassen und Waschbecken noch verkraftbar, wären die Folgen bei anderen Produktgruppen gravierender. Die Unternehmen sind beispielsweise wichtige Lieferanten für die Medizintechnik.

Fest steht: Ein Stopp russischer Gaseinfuhren würde Industrie und Wirtschaft hart treffen. Wie viel der Schritt kosten könnte, hängt nicht zuletzt davon ab, mit welchen Alternativen die Lücke gefüllt würde. In Deutschland gehen Ökonomen davon aus, dass ein Importstopp zu einem Einbruch der Wirtschaftsleistung zwischen 0,5 und drei Prozent führen könnte. In Österreich gibt es ähnliche Berechnungen – allerdings mit vielen unbekannten Variablen. Laut Klimaministerium ist derzeit nicht realistisch abschätzbar, wie viel ein Umstieg auf Gas anderer Lieferanten kosten würde. Zudem stellt sich die Suche nach Alternativen als schwierig heraus.

Privathaushalte gehen vor

Die Regierung verspricht, dass sie die Befindlichkeiten der einzelnen Branchen berücksichtigen wird, falls es bei einem Totalausfall russischer Lieferungen zu Zwangsrationierungen kommen sollte. Private Haushalte, Krankenhäuser, Sozialeinrichtungen, Rettung, Feuerwehr und Polizei gehören zum geschützten Kundenkreis, das heißt, sie wären die Letzten, die kein Gas mehr bekämen.

Sollte ein freiwilliger Verzicht auf hohen Gasverbrauch seitens der Industrie zu wenig sein, kann das zuständige Klimaschutzministerium Energielenkungsmaßnahmen anordnen. In einem ersten Schritt wäre das die Festlegung, dass in Österreich gespeichertes Erdgas nur mehr zur Versorgung von Endkunden in Österreich verwendet und nicht mehr exportiert werden darf. Noch sind die Speicher in Österreich zu etwa 13 Prozent gefüllt.

In einem weiteren Schritt könnte auch eine Verbrauchsreduktion in der Industrie angeordnet werden. Industrieunternehmen teils oder ganz von der Gasversorgung abzuschneiden setzt aber voraus, dass das Klimaministerium zuvor den Energielenkungsbeirat anhört – ein gut 30 Personen umfassendes Gremium, in dem verschiedene Ministerien, Bundeskanzleramt, Sozialpartner, Ländervertreter, Regulierungsbehörde und Spitzenvertreter der Erdöl- und Gaswirtschaft sitzen.

Anders als 2009, als wegen des Transitstreits zwischen Russland und der Ukraine 13 Tage lang kein Gas nach Österreich kam, kann Gas jetzt auch in umgekehrter Richtung fließen, nicht nur von Ost nach West, sondern auch von West nach Ost. Trotzdem hoffen alle, dass Simulationen für die Versorgung in Notfällen, die regelmäßig geprobt werden, nie in die Praxis umgesetzt werden müssen. (Günther Strobl, Nora Laufer, 2.4.2022)