Wien – Sexistische Witze, erniedrigende Spötteleien, verbale und tätliche Attacken. Unangebrachte Gesten, Mobbing, Einschüchterung, psychische Misshandlung, aggressives Nachstellen bis hin zu Vergewaltigung. Gewalt und Belästigungen in der Arbeitswelt haben viele Gesichter. Die Pandemie hat sie verstärkt, vor allem in systemrelevanten Branchen wie Gesundheitswesen, Transport und Einzelhandel, in denen der Druck auf die Beschäftigten stieg.

Kein Kavaliersdelikt: Arbeitnehmer sehen sich seit Corona vermehrter Aggression ausgesetzt.
Foto: APA, Barbara Gindl

Gut drei Jahre ist es her, dass die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) das Recht aller Menschen auf einen Arbeitsplatz frei von Gewalt und Belästigung anerkannt und beschlossen hat. Im Juni 2021 trat das erste internationale Abkommen dazu in Kraft. Elf Staaten haben dieses seither ratifiziert, darunter Südafrika, Ecuador, Argentinien und Großbritannien. Deutschland und Frankreich bereiten diesen Schritt vor.

Österreich hat dazu bisher nichts in die Wege geleitet. Eine Nachfrage der Arbeiterkammer und des Gewerkschaftsbunds an Frauenministerin Susanne Raab und Arbeitsminister Martin Kocher (beide ÖVP) Anfang März blieb unbeantwortet.

"Kein Minderheitenprogramm"

Das Übereinkommen bietet einen gemeinsamen Handlungsrahmen, um arbeitsbezogene Gewalt zu definieren, präventive Maßnahmen zu ergreifen und davon Betroffenen bessere Hilfe zukommen zu lassen. Länder, die es ratifizieren, sind ein Jahr danach rechtlich an seine Bestimmungen gebunden.

"Es geht hier um keine Kavaliersdelikte oder Minderheitenprogramme", sagt Korinna Schumann, Vizepräsidentin und Frauenvorsitzende des ÖGB, im STANDARD-Gespräch. Sie erzählt von Handelsangestellten, die angepöbelt und bespuckt werden, wenn sie auf Covid-19-Regeln hinweisen, von Spitalsmitarbeitern, die der Aggression ihrer Patienten wie deren Angehöriger ausgesetzt seien, und von Attacken gegen Zugbegleiter, die aufs Masketragen beharrten.

Österreich müsse sich gerade in Zeiten wie diesen klar dazu bekennen, Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu bekämpfen. "Das hat etwas mit der Kultur eines Landes zu tun."

"Starke Signalwirkung"

Auch Silvia Hruška-Frank, Arbeiterkammer-Expertin für Sozialpolitik, berichtet von zunehmender Gewalt infolge der Pandemie, die nicht zuletzt in Femiziden eskaliere. Denn das eine lasse sich nicht vom anderen trennen. Es gehe um Strafrecht, Arbeitsrecht und Arbeitnehmerschutz ebenso wie um Betriebsvereinbarungen und Kollektivverträge.

Die Ratifizierung des internationalen Übereinkommens hat aus ihrer Sicht starke Signalwirkung. "Alle Akteure gehören an einen Tisch, um gemeinsam Maßnahmen zu erarbeiten", fordert Hruška-Frank. "Österreich könnte hier ein Vorreiter sein, an dem sich andere Länder orientieren." Stattdessen habe man nun offenbar hinter Staaten wie Südafrika und Somalia das Nachsehen. Handlungsbedarf gibt es hierzulande den Sozialpartnern zufolge jedoch nicht erst seit Corona. Eine Studie der AK Oberösterreich über das Berufsrisiko Gewalt aus dem Jahr 2020 zeichnet ein unschönes Bild des österreichischen Arbeitsalltags.

Sexuelle Übergriffe

Ein Zehntel der unter 30-jährigen Frauen erlebte in ihrem Arbeitsumfeld sexualisierte Gewalt, bei jungen Männern waren es nur halb so viele. Sechs Prozent der Beschäftigten berichteten von sexueller Belästigung. Vier Prozent waren von entsprechenden Übergriffen betroffen.

Über Beschimpfungen und Beleidigungen im Job klagten 16 Prozent der Befragten. Bei jüngeren Arbeitnehmern und Mitarbeitern mit Migrationshintergrund lag der Anteil bei mehr als einem Fünftel. Elf Prozent sahen sich Mobbing, Drohungen und Erpressung ausgesetzt.

Das Ministerium von Frauenministerin Raab sieht sich auf Anfrage des STANDARD für das ILO-Abkommen nicht zuständig. Das Arbeitsministerium war eigenen Angaben zufolge an der Annahme desselben 2019 beteiligt. Dieses enthalte nunmehr jedoch Bestimmungen, denen die österreichische Rechtslage nicht voll entspreche, etwa rund um die nationale Definition von Gewalt.

Zudem gehe der Anwendungsbereich über klassische Arbeitsverhältnisse hinaus. So würden etwa auch Arbeitssuchende und Arbeitnehmer geschützt, deren Dienstverhältnisse bereits beendet seien. Wer für ihren Schutz verantwortlich sei, gehe aus dem Abkommen nicht hervor. (Verena Kainrath, 2.4.2022)