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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hofft auf ein baldiges Gespräch mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin.

Foto: AP/Ukrainian Presidential Press Office

Kiew/Moskau/Washington – Russland hat nach Angaben der Ukraine durchblicken lassen, dass die Zeit reif ist für Verhandlungen auf Präsidentenebene. Die Agentur Interfax Ukraine zitierte den zum ukrainischen Verhandlungsteam gehörenden David Arachamija am Samstagabend mit den Worten, Russland habe angedeutet, dass man bei den Dokumenten für den Entwurf eines Friedensvertrags so weit vorangekommen sei, dass dies direkte Konsultationen der Präsidenten Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj erlaube.

"Daher ist unsere Aufgabe zurzeit, die endgültige Fassung der Dokumente und noch offener Fragen auszuarbeiten, um ein eventuelles Treffen der Präsidenten zu ermöglichen", sagte Arachamija weiter. Sollte das Treffen zustandekommen, werde es wohl in der Türkei abgehalten, entweder in Ankara oder Istanbul. Selenskyj hat in den vergangenen Wochen wiederholt ein direktes Gespräch mit Putin gefordert, um den von Moskau am 24. Februar begonnenen Angriffskrieg zu beenden. Der Kreml lehnt dies bisher mit dem Hinweis darauf ab, dass Putin eine konkrete Grundlage – im Sinne abgeschlossener Vorverhandlungen – für diese Zusammenkunft fordert.

Russland habe die Position der Ukraine grundsätzlich akzeptiert, mit Ausnahme des Standpunktes zur Krim, hieß es weiter. Während Russland den Status der Krim infolge der – unter Bruch des Völkerrechts erfolgten – Annexion der ukrainischen Halbinsel im Jahr 2014 als geklärt ansieht, will Kiew eine 15-jährige Prüfphase vereinbaren. Die anderen Punkte betreffen die Neutralität der Ukraine und ihren Verzicht auf ausländische Militärbasen, wobei es im Gegenzug internationale Sicherheitsgarantien durch eine Reihe von Länder, etwa Israel, die Türkei, Kanada und Polen, geben soll.

Kreml: Gespräche "nicht einfach"

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte am Samstag, dass sich die russisch-ukrainischen Gespräche "nicht einfach" gestalteten. Es sei aber wichtig, dass sie fortgesetzt würden, zitierte die Agentur Ria Peskow. Russland habe eine Fortsetzung der Gespräche in Belarus vorgeschlagen, was die Ukraine aber ablehne. Die jüngste Gesprächsrunde hatte zu Wochenbeginn in der Türkei stattgefunden.

Die Ukraine gab am Samstag eine weitere positive Nachricht bekannt: Nach eigenen Angaben habe man die gesamte Hauptstadtregion Kiew befreien können. Man habe die Kontrolle über "die gesamte Region Kiew", teilte die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Samstagabend mit.

Das Bild aus Kiew stammt vom 23. März.
IMAGO/Carol Guzy/IMAGO/ZUMA Wire

Leichenfunde in Butscha

Im nordwestlichen Kiewer Vorort Butscha wurden indes Hinweise auf ein mögliches grauenhaftes Kriegsverbrechen durch die Invasoren entdeckt. 280 Leichen seien in einem Massengrab beigesetzt worden, teilten die Behörden mit.

Medienberichten zufolge sollen in Butscha zielgerichtet Männer im wehrfähigen Alter von der russischen Armee umgebracht worden sein. "Die russischen Invasoren haben die gesamte männliche Bevölkerung im Alter von 16 bis 60 Jahren in Bucha getötet", schrieb der Journalist Taras Beresowets am Samstag auf Twitter. Einige der Leichen hatten Schusswunden im Kopf, ihre Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden. Ein AFP-Reporter sah in einer einzigen Straße mehr als 20 Leichen. Sie alle hätten zivile Kleidung getragen. Einem der Männer waren die Hände gefesselt. Eine andere Leiche wies offenbar eine große Kopfwunde auf. Die leblosen Körper der Männer lagen über mehrere hundert Meter verstreut auf einer Straße in einem Wohngebiet des Vororts.

Selenskyj: "Lage im Osten bleibt sehr schwierig"

Die ukrainische Armee hatte rund um die Hauptstadt eigenen Angaben zufolge etwa 30 Dörfer zurückerobert. Die Behörden sprachen von einem "schnellen Rückzug" der Invasoren, erhoben aber zugleich schwere Vorwürfe gegen sie. So warnte Präsident Selenskyj, die abziehenden Truppen hätten Minen hinterlassen. "Sie verminen dieses Territorium. Häuser werden vermint, Ausrüstung wird vermint, sogar Leichen", sagt Selenskyj, ohne Beweise vorzulegen.

Er äußerte zudem die Befürchtung, dass der Abzug nur dazu diene, den militärischen Druck auf den Osten und Süden des Landes zu verstärken. "Russische Soldaten werden in den Donbass geholt. Genauso in Richtung Charkiw", erklärte er in einer Videoansprache in der Nacht auf Samstag. "Im Osten unseres Landes bleibt die Lage sehr schwierig."

Russland meldet Zerstörung von Militärinfrastruktur

Das russische Militär griff einen Militärflugplatz in dem Gebiet Poltawa an. Dabei seien Kampfhubschrauber und Flugzeuge zerstört worden, teilte das russische Verteidigungsministerium am Samstag in Moskau mit. Außerdem seien in der zentral gelegenen Region Depots für Treibstoff und Waffen getroffen worden. Der Gouverneur von Poltawa bestätigte, dass die Landebahn und ein Treibstoffdepot bei dem Angriff bestätigt worden seien.

In der Nähe der Bahnhöfe in Losowa und Pawlohrad seien zudem gepanzerte Fahrzeuge, Munition und Treibstofftanks zerstört worden, hieß es aus Moskau. Diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Bereits am Donnerstag soll eine russische Iskander-Rakete einen Militärstützpunkt in der Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine getroffen haben. Dabei seien mehr als 100 "Nationalisten und Söldner aus westlichen Ländern" getötet worden, hieß es im Lagebericht am Abend. Bei Kämpfen in der selbst ernannte Volksrepublik Luhansk seien zudem etwa 30 "ukrainische Nationalisten" getötet worden. Wann es dazu kam, teilte das Verteidigungsministerium zunächst nicht mit.

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Zivilistinnen fliehen aus Mariupol.
Foto: REUTERS/Stringer

Weitere erfolgreiche Evakuierungen

Der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch sagte am Samstag, das russische Militär konzentriere seine Angriffe auf die östlich gelegenen Gebiete der Ukraine. Es gebe Luftangriffe auf die Städte Mariupol, Charkiw und Tschernihiw. Neben der Rüstungsindustrie seien auch Wohngebiete betroffen. Der "Feind" versuche, Tschernihiw in ein zweites Mariupol zu verwandeln, meinte Arestowytsch. Die Hafenstadt Mariupol ist in den vergangenen Wochen schwer zerstört worden. Tschernihiw sei aber noch über den Landweg zu erreichen. "Die Einwohner können die Stadt verlassen."

Am Samstag gelangen weiteren Zivilisten und Zivilistinnen die Flucht aus umkämpften Städten. 765 Zivilisten hätten mit eigenen Fahrzeugen die Hafenstadt Mariupol im Südosten des Landes verlassen, teilte Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk im Nachrichtenkanal Telegram mit. Fast 500 Zivilisten seien aus der Stadt Berdjansk geflohen. Ziel der Menschen aus beiden Städten sei Saporischschja. Zudem seien in Berdjansk zehn Busse gestartet. Am Sonntag solle die Evakuierung dort fortgesetzt werden, sagte Wereschtschuk. (APA, AFP, red, 2.4.2022)