"Daumen hoch" heißt es in der österreichischen Erstaufführung von Rainald Goetz’ Stück "Reich des Todes". Für die Betroffenen bedeutet dies allerdings Terror und Folter. Im Mittelpunkt: Mehmet Ateşçi.

Foto: Marcella Ruiz Cruz

Mit einem Rave beginnt’s. Das ist bei einem Autor, dessen Schreiben lange eng mit der Nacht, der Musik und den Drogen verbunden war, nicht weiter verwunderlich. Allerdings haben bei Rainald Goetz die Reflexionen über Techno und Ekstase schon länger solchen über Folter und Freiheitsbeschneidung Platz gemacht. Viele Jahre musste man auf ein neues Werk des mittlerweile auch schon 67-jährigen Popautors warten. Auf den Tag genau 20 Jahre nach dem 11. September wurde dann am Hamburger Schauspielhaus sein neues Stück Reich des Todes von Karin Beier uraufgeführt.

Schon damals fragte man sich, warum sich Goetz für seine literarische Verarbeitung dieses Ereignisses so lange Zeit gelassen hat. Eine Ahnung über mögliche Gründe liefert jetzt, eineinhalb Jahre später, die österreichische Erstaufführung, die Regisseur Robert Borgmann am Akademietheater eingerichtet hat. Dreieinhalb Stunden dauert hier die Fassung, doch wenn man im Programmheft nach hinten blättert, dann sind dort all die Szenen aufgelistet, die man in Wien gestrichen hat.

Wie bei einem Rave mit seinen Repetitionen und Loops baut sich auch Reich des Todes langsam auf, variiert seine Motive, driftet ab und kommt dann wieder zur Sache. In Buchform ist der Fünfakter nicht nur ein überbordendes, von Motti und Referenzen durchsetztes Textgebilde, das Stück ist durch die Präzision von Typografie und Erscheinungsbild auch ein verspieltes, visuelles Erlebnis. Würde man Reich des Todes zur Gänze spielen, käme man wohl locker auf acht Stunden.

Sprungbrett in den Hades

Der 11. September ist für Goetz ein Sprungbrett, das ihn nicht nur in die Tiefen des menschlichen Hades, sondern auch in jene der deutschen Geschichte katapultiert. Boom, boom, boom, wummert der Bass im Akademietheater, während sich 20 halb nackte Leiber mechanisch zur Musik bewegen. Der Einschlag der Flugzeuge ins World Trade Center, von dem Schauspieler Martin Schwab erzählt, markiert auch das Ende von "Fun", wie er am Ende ausführt. Die endlose Love Parade ist vorbei, die Ära der Blender und Überwacher, der Folterer und ihrer Knechte hat begonnen.

Ihre realen zeitgeschichtlichen Namen, also Bush, Cheney oder Rice, werden bei Goetz in einem eigenen Personalverzeichnis angeführt. Auf der Bühne erheben sich der Commander in Chief und seine Regierung als Prototypen gefinkelter Rechtsausleger aus den Gräbern von 9/11. Was in den USA nach den Terroranschlägen passiert ist, das ist etwas, das der Staatsrechtler Carl Schmitt bereits in den 1920ern theoretisch ausgeführt hat. "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet", lautet der Satz, dem Guantánamo oder Abu Ghraib zu Anfang des 21. Jahrhunderts neue Aktualität verliehen haben.

Unter dem Guantánamo-orangen Segel, das Borgmann als sein eigener Bühnenbildner nebst viel Erde, auf und abfahrenden Leuchtröhren und einem Portal ins Akademietheater gewuchtet hat, geht es schnell an die Aushebelung demokratischer Strukturen. Die unschuldigen Debütantinnen im Frack oder mit Krönchen, die in einem Moment noch über die Bühne tanzen, sind im nächsten schon die Fratzen der Aushebelung des Rechtsstaats samt Jodhpurs und Guilt-Kappen. Goetz’ und Borgmanns Assoziationsräume reichen weit über die politische Aufarbeitung der Folgen von 9/11 hinaus: Der Plan eines Konzentrationslagers schwebt von der Decke, Rotkäppchen tritt auf, von Jünger bis Heidegger werden rechte Geistesgrößen zitiert.

Präsident mit Folterfantasien

Loops und Montagen sind nicht nur Strukturprinzip des Goetz’schen Schreibens, sie prägen auch sein Denken, das kurzschließt, wo andere auf historische Unvereinbarkeit pochen. Er eröffnet damit Gedankenräume, die das achtköpfige Wiener Ensemble anfänglich gut zu nutzen weiß: Der Schauspieler Mehmet Ateşçi macht aus O, du lieber Augustin eine Bilderbuch-Nummer, Marcel Heuperman wird als Präsident mit Trump-Frisur mit roter Farbe beschmiert, während er sich auf dem Massagebett in Folterfantasien ergeht. Im Vordergrund umkreisen indessen Blumenmädchen das Polyeder aus Dürers Kupferstich Melencolia 1, das sich nach der Pause zusammen mit dem Schauspieler Felix Kammerer in einem Stacheldrahtkäfig wiederfindet.

Kammerer muss den anspruchsvollsten Monolog an dem immer monologlastigeren Abend stemmen. Er springt vom Tristan zur Wannseekonferenz und von Blackwater zu American Psycho. Schon im ersten Teil gerät Goetz’ wüste, zwischen Dante und de Sade angesiedelte und vom Musiker Alva Noto mit dumpfen, wummernden Klängen unterlegte Phantasmagorie immer wieder aus dem Takt, im zweiten entgleitet die Abrechnung aber komplett. Wenn am Ende Martin Schwab in einer altväterlichen Rede dann auch noch anfängt über das Theater (und viel zu vieles mehr) nachzudenken, gleicht das nicht nur einer Kapitulation der Dramaturgie, sondern auch der Regie vor Goetz’ Monstertext.

Einige Buhs beim Applaus. Man muss ihnen leider trotz starken Auftakts und manch wuchtiger Szenen recht geben. (Stephan Hilpold, 3.4.2022)