Das Werk Märchenland für alle sorgt für heftige Reaktionen.

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In vielen Ländern wäre das Buch Meseország mindenkié (Märchenland für alle) in der Flut der jährlichen Neuerscheinungen in der Kinderbuchabteilung wohl untergegangen. In Ungarn ist die Märchenanthologie ein Bestseller – und ein Symbol des Widerstands gegen die LGBTQ-feindliche Politik der regierenden rechtsnationalen Fidesz-Partei.

Am Sonntag waren die Menschen in Ungarn neben der Wahl zu einem neuen Parlament zu einem Referendum über ein umstrittenes Gesetz aufgerufen, das die Rechte von Homo- und Bisexuellen sowie Transgenderpersonen beschneiden soll.

Auf dem Weg zum Referendum spielte das Kinderbuch eine nicht unerhebliche Rolle. Ende 2020 veröffentlichte die Organisation Labrisz die Anthologie, in der 17 bekannte Märchen gesammelt sind. Der Clou: Alle Hauptfiguren gehören einer marginalisierten Gruppe an. So gibt es in Märchenland für alle einen schwulen Prinzen, ein Aschenputtel mit einem alkoholsüchtigen Vater oder einen Hasen, der mit drei Ohren geboren wurde.

"Angriff auf Ungarn"

Dóra Dúró, Parlamentsabgeordnete und Vizepräsidentin der rechtsextremen Heimat-Partei, sah in dem Buch einen "Angriff auf Ungarn", bezeichnete das Werk als "homosexuelle Propaganda" und warf es öffentlich in einen Schredder. Rückendeckung bekam Dúró zumindest indirekt von Ministerpräsident Viktor Orbán. "Lasst unsere Kinder in Ruhe", sagte der Regierungschef in Bezug auf die in dem Buch angesprochene Homosexualität.

Später verlangte die Regierung von dem Verlag – und allen, die ähnliche Inhalte veröffentlichen –, das Buch mit einem Warnhinweis zu versehen. Obwohl es alle Kinder ab sechs Jahren ansprechen sollte, durfte es Minderjährigen nicht mehr zugänglich gemacht werden. Von Büchertischen in den Geschäften des Landes verschwand es. Wer es wollte, musste aktiv danach fragen oder auf Onlineshops ausweichen.

Drohungen gegen den Herausgeber

Der Beliebtheit des Buchs tat dies keinen Abbruch: Es wurde zum Bestseller und ist nun sogar in deutscher Sprache erschienen. Dorottya Rédai, die das Buch koordiniert hat, wurde vom Time-Magazin unter die 100 einflussreichsten Menschen 2021 gewählt. Der Herausgeber Boldizsár Nagy wiederum ist aufgrund anhaltender Drohungen ins Ausland geflüchtet.

Auch wenn das Rampenlicht in Ungarn vor allem der Parlamentswahl galt, so ist die Abstimmung über das sogenannte "Kinderschutzgesetz" ein wichtiges Stimmungsbild diesbezüglich, ob man junge Menschen vor Büchern wie Märchenland für alle und den liberalen Lebensentwürfen, die sie vermitteln, schützen muss. (Philip Pramer, 3.4.2022)