Zerstörung in Irpin: Schon ganz zu Beginn des russischen Angriffskriegs schlugen dort Geschoße ein.

Foto: IMAGO/Daniel Ceng Shou-Yi

Die Bilder von toten Ukrainern in der Kiewer Vorstadt Butscha haben die Welt am Wochenende schockiert. Jaroslaw Kuz ist Koordinator des Krisenstabs in Irpin, jener Stadt bei Kiew, die gerade erst von ukrainischen Kräften zurückerobert wurde. Wie Butscha oder auch Hostomel war Irpin seit Anfang des Krieges schwer umkämpft. Jetzt werden die Schäden erhoben und die Toten gezählt.

STANDARD: Herr Kuz, wie ist die Lage in Irpin und in der Region um die Stadt derzeit?

Kuz: Es sind keine Russen mehr hier, und auch die russische Artillerie erreicht Irpin nicht mehr. Wir entminen die Stadt derzeit und versuchen die Infrastruktur wiederherzustellen, um die Stadt wiederzubeleben.

STANDARD: Die Bilder aus Butscha gehen derzeit um die Welt. Sie waren die ganze Zeit in Irpin. Was ist da passiert in diesem Gebiet?

Kuz: Der ganze Krieg hat ja begonnen in Hostomel, Butscha und Irpin. Was wir gesehen haben, war, wie Schulen, Kindergärten, Privathäuser, Wohnhäuser beschossen und besetzt wurden. Sie haben die ganze Region besetzt. Das ist ein Gebiet mit vielen neuen Häusern. Irpin hatte 100.000 Einwohner, und die meisten davon waren Mittelstand, davon sehr viele Familien. 40 Prozent der Bewohner waren Kinder.

Irpin war eine sehr junge Stadt; eine komfortable und moderne Stadt. Das hat die Russen sehr überrascht. Ihnen wurde von der eigenen Propaganda eingetrichtert, die Ukraine sei rückständig, die Ukrainer würden in winzigen Häusern leben und russische Kinder kreuzigen. Und dann wurde es wirklich wirklich schlimm. Sie haben damit begonnen, ganz einfach Menschen zu erschießen – Frauen, Kinder, Zivilisten. Sie haben Autos, in denen Familien saßen, mit Panzern überfahren. Sie haben Frauen vergewaltigt, sie getötet, weggeworfen wie Mist und sie dann einfach verbrannt. Sie haben Tote mit Panzern überrollt.

STANDARD: Haben Sie das selbst gesehen?

Kuz: Ich war und bin der Koordinator des Krisenstabs und der Lokalverteidigung. Ich habe gesehen, wie eine Familie in ihrem Auto erschossen wurde. Ich habe gesehen, wie tote Frauen auf die Straße geschmissen wurden und mit Panzern überfahren wurden. Ich habe gesehen, wie Kinder in Autos erschossen wurden.

STANDARD: Wie hat sich das zu diesem Horror aufgebaut?

Kuz: Wir haben die Evakuierungen organisiert. Bis zum 5. März hat das einigermaßen funktioniert. Nach dem 5. März wurde es nahezu unmöglich, Menschen aus der Stadt zu holen. Das humanitäre Koordinierungszentrum in der Stadt wurde gezielt beschossen. Zu dieser Zeit waren keine internationalen Organisationen in Irpin. Wir waren auf uns gestellt.

Erst jetzt ist das Rote Kreuz da. In der Nacht vom 5. auf den 6. März haben wir dann beschlossen, so viele Menschen wie nur irgendwie möglich aus der Stadt zu bringen. Um 6.30 Uhr morgens haben wir die Leute in alle möglichen Verkehrsmittel gepresst, und sobald die Kolonne stand, begann der Beschuss. Die Menschen waren alle müde und erschöpft. Man hat es ihnen angesehen. Und dann stelle man sich vor, man steht mit tausenden Menschen mitten auf einer Brücke, und rundherum schlägt die Artillerie ein. Die ganze Zeit. Da kann man eine Javelin (Panzerabwehrwaffe, Anm.) bei sich haben oder ein Maschinengewehr, das bringt alles gar nichts.

Alles, was man tun kann, ist, sich hinlegen und danach alle Toten zählen. Und das haben wir oft gemacht. So lange, bis wir fast alle Leute, die auch aus Irpin rauswollten, raushatten. Zu den Menschen in zwei Teilen der Stadt, die unter russischer Kontrolle waren, hatten wir allerdings keinen Kontakt. Von dort konnten wir niemanden evakuieren.

STANDARD: Es gab also keine Koordination mit der russischen Armee, was diese Korridore angeht?

Kuz: Nein. Wir haben versucht, Kontakt aufzunehmen. Freiwillige sind auch in diese Gebiete gefahren, aber sobald sie sich den russischen Positionen genähert haben, wurden sie beschossen.

Jaroslaw Kuz ist Krisenkoordinator in Irpin nahe Kiew.
Foto: Privat

STANDARD: Haben Sie eine Ahnung, wie viele Menschen in Irpin gestorben sind?

Kuz: Wir können das noch nicht sagen. Wir durchsuchen derzeit alle Häuser, die Kanalisation, die Keller und sammeln die Leichen ein. Bei der lokalen Polizei gibt es tausende Vermisstenanzeigen. Ganze Familien sind verschwunden oder wurden getötet: Alte, Junge, Frauen, Kinder, Männer. Einfach alle. Europa muss verstehen, dass es sich hier um einen Genozid handelt. Das waren alles Zivilisten. Und wir werden noch viele Tote finden. Denn es ist eine Sache, wenn jemand von Artillerie oder im Zuge von Kämpfen stirbt; aber es ist eine ganz andere Sache, wenn systematisch gefoltert, vergewaltigt und getötet wurde so wie hier.

STANDARD: Wie viele Menschen befinden sich derzeit in Irpin?

Kuz: Die Stadt hatte einmal 100.000 Einwohner. Derzeit sind 92 Prozent der Menschen weg. Und die Menschen haben auch nichts, wohin sie zurückkommen könnten: 70 Prozent der Häuser sind komplett zerstört – in einem Ausmaß, dass sie auch nicht mehr renoviert werden können. Und der Rest wurde beschädigt und geplündert. In Irpin gibt es kein einziges Haus, keine einzige Garage, die nicht aufgebrochen wurde. Sie haben sogar Spielsachen gestohlen – Roller, Fußbälle, Kühlschränke. Einfach alles.

STANDARD: Wo fängt man da an mit dem Wiederaufbau?

Kuz: Erst einmal versuchen wir, all die Minen zu finden und zu entschärfen, die die Russen gelegt haben, damit man sich einmal einigermaßen durch die Stadt bewegen kann. Dann liegt sehr viel Munition herum. Das ist das Erste. Danach kommen Elektrizität, Gas und Wasser. Und dann müssen wir jedes einzelne Haus nach Minen durchsuchen, während die Polizei den ganzen Schaden dokumentiert und die Ordnung einigermaßen wiederherstellt. Erst danach können wir anfangen, davon zu reden, dass wir Menschen zurückbringen. Aber die ganzen Wälder um Irpin sind voller Munition. Diese Wälder zu säubern und sicher zu machen wird Jahre dauern. Also, derzeit von Sicherheit in Irpin zu sprechen ist unmöglich.

STANDARD: Was ist mit den Massengräbern. Was sind das für Gräber? Was weiß man darüber?

Kuz: Es gibt drei Arten von Massengräbern in der Region. Da sind einmal jene, zu denen es Aufzeichnungen aus den medizinischen Einrichtungen gibt. Da sind Menschen begraben, die zum Beispiel im Spital an Verletzungen gestorben sind. Es gab keine Orte, um diese Menschen zu begraben, und so wurden sie vom Spitalspersonal in Gruben beigesetzt. Wir wissen, wo diese Gräber sind, und auch, wer darin liegt.

Die anderen sind die Gräber, die die Russen angelegt haben. Die sind oft gleich neben Häusern, in denen sie gelagert haben. Da wurden zum Beispiel Mädchen vergewaltigt, getötet und in eine Grube geworfen, bis diese voll war, und dann wurde die Grube zugeschüttet. Und dann sind da die Gräber, in denen russische Okkupanten liegen. Ihre Leichen lagen in den Straßen, die Hunde haben sie angefressen, also haben wir sie in Massengräbern beigesetzt. Zum Teil haben sie das auch selbst gemacht.

STANDARD: Gibt es zu diesen Vorkommnissen und auch zu möglichen Kriegsverbrechen systematische Ermittlungen? Und, wenn ja: Wer führt die?

Kuz: Die Polizei ist zurück in der Stadt und dokumentiert alles – auch die Zerstörungen. Man muss sich vorstellen: Wir wurden aus der Luft bombardiert. In Irpin gibt es aber keine militärischen Ziele. Das ist eine einfache zivile Stadt. Aber es wurden Spitäler zerstört, es wurden Kindergärten bombardiert. Die Polizei sammelt also die Leichen ein und eröffnet Verfahren. Der nächste Schritt ist die Befragung von Zeugen. Jeder einzelne russische Soldat, der hier stationiert war, ist ein Verbrecher. Und hier waren sicher nicht weniger als 40.000 Russen stationiert.

STANDARD: Wissen Sie, um welche Einheiten genau es sich gehandelt hat?

Kuz: Sie hatten alle das V-Zeichen auf ihren Fahrzeugen. Tschetschenen waren hier, Russen. Burjaten. Was ihre Toten angeht: Die meisten sind verbrannt, nur von sehr wenigen haben wir Dokumente gefunden. Unsere Armee weiß aber, welche Einheiten genau hier waren.

STANDARD: Ist der Krieg für diesen Teil der Ukraine denn vorbei?

Kuz: In Irpin ist dieser Krieg nicht vorbei, und er wird noch viele Jahre nicht vorbei sein. Weil Russland nicht aufhören wird, sich die Ukraine zu wünschen. Seit Russland existiert, will es die Ukraine. Das ist eine historische Konstante. Außerdem wurde Kiew im Lauf seiner Geschichte nie vom linken Ufer des Dnipro aus eingenommen. Daher sind sie auch von Belarus gekommen. Irpin hätten sie benötigt, um Kiew mit Grad beschießen zu können. Nur hier hätten sie genug Grad-Batterien stationieren können, um Kiew zu zerstören.

Da ist aber noch etwas: Die Geschichte der russischen Militäraktionen wie in Tschetschenien, in Ossetien oder Abchasien hat uns gelehrt, dass Russland immer zweimal zuschlägt – und dieser zweite Schlag tötet immer mehr Menschen als der erste und richtet mehr Schaden an. Der Krieg ist für Irpin also erst vorbei, wenn Russland an sich zerfällt oder geschlagen wird. In einem friedlichen Europa zu leben mit einem besoffenen Nachbarn wie diesem ist nicht möglich. (Stefan Schocher, 4.4.2022)