Inhalte des ballesterer (http://ballesterer.at) #169 (April 2022) – Seit 1. April im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

Schwerpunkt: Krieg in der Ukraine

ENDE EINER FREUNDSCHAFT

Lange war der internationale Fußball ein Verbündeter Putins, jetzt vollziehen Verbände und Vereine eine Kehrtwende

VON OLIGARCHEN, KORRUPTION UND KÄMPFE

Eine kurze Geschichte des ukrainischen Fußballs

KEINE KURVENDISKUSSION

Fans üben sich in Solidaritä

Außerdem im neuen ballesterer

NAGELSMANN FÜR ALLES

Der Bayern-Trainer im Porträt

SCHWOAZER SCHRIFTSTELLER

Nachruf auf Gerhard Roth

KAPFENBERGER TALENT

Lewan Eloschwili im Porträt

VERGESSENE TRADITION

Die Osterturniere

EAST END LAD

Sol Campbell über seine Lehrjahre

KAUFEN STATT LEIHEN

Die FIFA ändert die Transferregeln

KOLONIALES ERBE

Der Durand Cup in Indie

ROMANTIK HINTER JUGENDSTILFASSAD

Zu Besuch bei Union Saint-Gilloise

DIE BESTEN DER WEL

Im Baskenland gelten eigene Gesetze

STILLER BEOBACHTER

Otto Hainzls Fotografien

VIOLETTE NÖTE

Ein Anstoß zur Wiener Austria

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus Deutschland, Italien und Ungarn

Cover: Ballesterer

Ingo Petzt engagiert sich für Fußballfans in der Ukraine.

Foto: Standard

Die Anstrengungen der letzten Wochen sind Ingo Petz anzumerken. Seine Arbeit für dekoder.org, das Portal für Informationen aus Osteuropa, ist so wichtig wie nie. Und dann sind da die beruflichen und privaten Verbindungen in die Ukraine, der ständige Fluss von Nachrichten. Freunde und Kollegen, die geflohen sind, andere, die noch im Land sind. Manche wollen kämpfen, andere organisieren Fluchtrouten, wieder andere benötigen eine Unterkunft. Viele von ihnen kennt Petz über Fankurve Ost, das Projekt, das er ab 2014 mitaufgebaut hat.

ballesterer: Das erste Seminar von Fankurve Ost hat 2014 in Berlin stattgefunden, kurz nach der russischen Annexion der Krim. Sie haben Teilnehmer aus Belarus, Russland und der Ukraine eingeladen. Wie war das?

Petz: Vor Beginn sind wir ganz schön nervös gewesen, ob das gelingen wird. Wir sind dann aber von Anfang an sehr positiv überrascht worden. Es hat sehr emotionale Diskussionen gegeben, immerhin war Fankurve Ost auch eine Art Friedensprojekt. Der Rahmen des Fußballs hat sicher geholfen, die Teilnehmer teilen dieses Interesse, und wir sind gemeinsam ins Stadion gegangen.

ballesterer: War das der Ansatz von Fankurve Ost, also über den Fußball einen Raum für Begegnungen herzustellen?

Petz: Mein Kollege Peter Liesegang hat mit Seminaren zu zivilgesellschaftlichen Inhalten angefangen. Als er das Projekt ausweiten wollte, ist mir sofort das Thema Fankultur eingefallen. Das bietet viele Möglichkeiten, damit erreichst du andere Leute als mit klassischen NGO-Themen. Der Fußball stellt eine emotionale Klammer her. Wir haben mit kleinen Programmpunkten angefangen und im Berliner Fanprojekt bald einen wichtigen Partner gefunden. Wir haben Fußballvereine und Initiativen besucht, die sich im Bereich Fankultur engagieren. Mit Blick auf die WM in Russland ist das Ganze langsam gewachsen.

ballesterer: Wie haben Sie die Teilnehmer für die Seminare gefunden?

Petz: Ich habe einige Fans und Journalisten in Osteuropa gekannt, über die haben wir das gestreut. Je häufiger unsere Seminare stattgefunden haben, desto einfacher ist es geworden. Wer teilnehmen wollte, musste ein Motivationsschreiben verfassen. Uns hat das geholfen, um zu sehen, welche Interessen die Leute haben, ob sie in der organisierten Fanszene sind, aus welcher politischen Richtung sie kommen und so weiter. Es haben auch Vereinsmitarbeiter und Journalisten als Multiplikatoren teilgenommen – und manchmal auch Leute von klassischen Menschenrechtsprojekten. Die sehen Fußball oft nur als Unterhaltungsevent oder als Ort, an dem Gewalt ausgeübt wird. Wir haben versucht, sie dafür zu sensibilisieren, dass er Raum für anderes bietet.

ballesterer: Die Seminare haben ab 2016 auch in der Ukraine stattgefunden. Was war die Idee dahinter?

Petz: Wir wollten Projekte vor Ort anstoßen, also Grassroots-Initiativen im Fußball. Das war nur in der Ukraine möglich, in Russland und Belarus waren die autoritären Strukturen zu stark. Wir haben Interessierte zu weiteren Workshops eingeladen, sie mit Fanprojektmitarbeitern zusammengebracht und zu Themen wie Gewalt, politischem Extremismus und Fanmitbestimmung gearbeitet.

ballesterer: Wie haben Sie die Entwicklung in den Ländern nach der Maidan-Revolution 2014 erlebt?

Petz: Uns ist relativ schnell klar geworden, dass wir zwar Teilnehmer aus Belarus und Russland einladen können, sie dort aber keine Initiativen aufsetzen können, weil die Politik nicht mitmacht. Für das belarussische Regime gelten Fußballfans seit den Maidan-Protesten in Kiew als Sicherheitsrisiko. Dort haben sich Fans zusammengetan und Demonstranten vor den Schlägerbanden Janukowytschs geschützt. Manche sind nach dem Kriegsbeginn in der Ostukraine Freiwilligenbataillonen beigetreten. Vor einer solchen Entwicklung hat sich das Regime in Belarus gefürchtet. Es sind auch Propagandaartikel gegen uns erschienen, mit dem Vorwurf, wir würden Ultras ausbilden, um einen Putsch zu organisieren. Die belarussischen Fanszenen waren weniger gut organisiert als die ukrainischen, ab 2014 sind sie vom Staat weitgehend zerschlagen worden. In Russland haben wir gehofft, die kurze Offenheit im Vorfeld der WM nutzen zu können. Aber auch das hat sich sehr schwierig gestaltet.

ballesterer: Was war in der Ukraine anders?

Petz: Dort haben die Menschen die Erfahrungen von zwei Revolutionen gehabt, bei denen sie versucht haben, mit korrupten, autoritären Tendenzen im Land aufzuräumen. Nach 2014 hat es neue Freiheiten gegeben, Repressionen wie in Belarus haben jüngere Menschen nicht mehr erlebt. Das hat auch einen starken zivilgesellschaftlichen Prozess in Gang gesetzt, den wir genutzt haben. Aus unseren Seminaren sind Initiativen an verschiedenen Orten in der Ukraine entstanden, darüber hinaus auch lose Netzwerke in Belarus und Russland. Viele unserer Teilnehmer haben bis heute Kontakt.

ballesterer: Was haben Sie in den Workshops gemacht?

Petz: Wir haben uns die Fankultur verschiedener Szenen und in mehreren Städten angeschaut und Vereinsvertreter getroffen. Wir haben den Leuten nichts vorgegeben, sondern Anregungen und Ideen geliefert. In der organisierten Fanszene hat es uns gegenüber auch Vorbehalte gegeben, zum Beispiel weil die sozialpädagogischen Fanprojekte in Deutschland staatlich gefördert werden. Da haben manche Ultras Angst gehabt, dass sie vom Staat manipuliert werden.

ballesterer: Hängt das auch mit einem anderen Verständnis von Politik zusammen?

Petz: Ja, man kann unseren Politikbegriff nicht einfach in den osteuropäischen Kontext übersetzen. In Westeuropa geht man eher davon aus, sich gesellschaftspolitisch zu betätigen. Das ist in Osteuropa anders, gerade in autoritären Staaten wie Russland und Belarus bekommen die Leute eingetrichtert, dass sie sich nicht in die Politik einzumischen haben. Das ist in Belarus bei den Protesten 2020 aufgebrochen, die Menschen wollten die staatliche Gewalt nicht mehr hinnehmen.

ballesterer: Welche Veränderungen haben Sie in der Ukraine beobachtet?

Petz: Die osteuropäischen Gesellschaften sind im Durchschnitt häufig konservativer als westeuropäische, und linke Politik ist durch die Erfahrung mit der Sowjetunion diskreditiert. Eine Veränderung findet nur langsam statt, aber gerade bei der Ukraine war ich hoffnungsvoll, weil das Land nach 2014 vielfältiger geworden ist.

ballesterer: Sie haben den Zusammenschluss der Ultras bei den Maidan-Protesten erwähnt. Hat das gehalten?

Im Großen und Ganzen ja. Gewalttätige Rivalitäten sind teilweise begraben worden, allerdings sind ausländische Fans bei Europacupspielen angegriffen worden. Und manche Feindschaften sind weiter gepflegt worden. Als Schachtar Donezk wegen des Kriegs im Osten in Lwiw gespielt hat, hat es Anfeindungen durch die Fans von Karpaty Lwiw gegeben. Das hat aber auch damit zu tun, dass Schachtar-Besitzer Rinan Achmetow als langjähriger Verbündeter von Wiktor Janukowytsch in Lwiw sehr unbeliebt ist.

ballesterer: Viele ukrainische Klubs sind nach 2014 bankrottgegangen, die Oligarchen haben die Lust oder ihr Geld verloren. Welche Rolle hat das für Ihre Arbeit gespielt

Petz: Der Fußball hat an Bedeutung eingebüßt, die Zuschauerzahlen sind stark gesunken. Das hat aber nicht nur mit der wirtschaftlichen Krise und dem Krieg zu tun gehabt, viele Leute haben vom Oligarchenfußball einfach genug gehabt. Die Identifikation funktioniert eben nicht, wenn du nur Fanartikel kaufen sollst. Als ihr Klub plötzlich verschwunden ist, haben Fans an manchen Orten wie Rivne versucht, etwas Neues aufzubauen.

ballesterer: Welchen Einfluss hat die Korruption gehabt, die in der Ukraine auch im Fußball sehr präsent ist?

Petz: Korruption lähmt die Ukraine. Reformprozesse sind durch alte Netzwerke immer wieder behindert worden. In manchen Bereichen ist es besser geworden, aber gerade im Fußball herrscht noch ein autoritäres System. Auch deswegen sehen junge, politisch aktive Leute dort kein Feld, in dem sich für progressive Einstellungen kämpfen lässt. Das war in Westeuropa lange auch nicht anders. Genau dort wollten wir mit unseren Seminaren ansetzen, doch dazu wird es jetzt erst einmal nicht kommen. (Nicole Selmer, 5.4.2022)