"Vieles kommt aus meiner Gefühlswelt": Kurdwin Ayub über ihr Langfilmdebüt.

Foto: Regine Hendrich

Drei weibliche Teenager drehen ein Musikvideo im Hidschab und landen damit einen kleinen Hit im Internet. In Sonne, ihrem auf der Berlinale als bestem Debüt prämierten Film, erzählt die kurdisch-österreichische Regisseurin Kurdwin Ayub entspannt und lebensnah von einem Freundinnentrio und davon, wie gewitzt und frech man mit kulturellen Identitäten umgehen kann. Der Film eröffnet heute die 25. Grazer Diagonale, die bis Sonntag heimisches Filmschaffen quer durch alle Sparten präsentiert.

STANDARD: In Ihrer Fördereinreichung für den Film haben Sie geschrieben, Sie wollten eine migrantische Geschichte richtig erzählen. Was empfanden Sie denn als falsch?

Ayub: Als junges Mädchen mit Migrationshintergrund haben mich diese dramatischen Ausländergeschichten genervt. Ich wollte nun eine andere Sicht ermöglichen, die auch real und authentisch ist: Ohne dass es darauf hinausläuft, dass der Vater streng, die Mutter arm ist und die Mädchen nichts dürfen. Und ohne Terrorismus. Auch wenn es den gibt.

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STANDARD: Oft steht in solchen Problemfilmen am Ende die Utopie einer Versöhnung.

Ayub: Ja, das ist auch lustig. Eine Utopie, ein bisschen wie die vom weißen Ritter, der einen rettet. Das kenne ich gut. Filme für ein weißes Publikum, damit man sich gegenseitig auf die Schulter klopfen kann. "Wir machen gute Filme über Ausländer!" Ich wollte keinen Film über einen Flüchtling machen, der vom Boot fällt. Das steht auch in meinem Statement.

STANDARD: Stattdessen gilt es, gegen solche Erwartung zu erzählen. Wie geht das?

Ayub: Das habe ich bei Sonne versucht: Klischees umzudrehen. Klischees zu benutzen, um damit zu spielen und zu provozieren.

STANDARD: Welches war das erste Klischee?

Ayub: Das Klischee des muslimischen, unterdrückten Mädchens. Meine Figur Yesmin kann machen, was sie will. Ich wollte auch zeigen, dass es kein unglaubliches Drama wird, wenn das Kopftuch einmal abgelegt wird.

STANDARD: Das Kopftuch ist kein Symbol der Unterdrückung. Die drei Frauen twerken im Hidschab zu "Losing my Religion" von R.E.M.

Ayub: Für die Mädels ist es eher ein Symbol, um sexy zu sein. Ich hab die Sachen für die Szene anprobiert, da war der erste Gedanke: ein bisschen Bein zeigen und sexy Fotos machen. Auch mit muslimischen Mädchen kann es lustig sein. Auf das Lied bin ich gekommen, weil gerade dieses 90er-Revival ist.

STANDARD: Was auffällt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Frauen kulturelle Versatzstücke annehmen: Woher kommt dieser sehr dynamische Umgang mit solchen Codes?

Ayub: Ich habe das selbst so erlebt. Mich fasziniert, wie man sich einer Kultur bedienen kann. Man nimmt sich ein Fragment und hat damit Erfolg. Es ist ein wenig wie bei Kim Kardashian, die mit ihrem Hintern, dicken Lippen und Selbstbräunerbody sehr viel Geld macht. In den USA haben schwarze Frauen darüber diskutiert, warum Kardashian mit ihren Attributen so viel verdienen kann. Da war ein Gefühl von Diskriminierung im Spiel. In Sonne wollte ich darstellen, dass Yesmin mit ihrer Identität kämpft, während ihre Freundinnen Bella und Nati einfach Teile davon annehmen. Und ab irgendeinem Punkt wird es kritisch. Wenn sie keinen Respekt mehr dafür haben, aber so tun, als wäre es trotzdem okay.

STANDARD: Eine feine Grenze.

Ayub: Ich kann gar nicht sagen, wo genau sie verläuft, aber ich kann sie fühlen. Als ich ein junges Mädchen war, hatte ich eine Freundin, die sich wegen eines Burschen entschlossen hat, ein Jahr lang muslimisch zu sein und Kopftuch zu tragen. Als der Typ weg war, war’s vorbei. Da hatte ich dieses Gefühl, konnte es aber nicht in Worte fassen. Das ist meine Kultur – und sie nimmt sich einen Teil davon. Die tausend Onkel, die sich wie meine Väter benommen haben, hat sie sich erspart.

STANDARD: Gegenwärtig wird die Grenze oft definiert. In Deutschland wurde eine weiße Musikerin ausgeladen, weil sie Dreadlocks hatte.

Ayub: Das ist wieder ein bissl zu arg. Am liebsten habe ich es ja, wenn Leute, die nichts mit Diskriminierung zu tun haben, andere Leute diskriminieren, die auch nichts damit zu tun haben! Da denk ich mir: Ihr habt zu viel Zeit!

STANDARD: In "Sonne" geht es auch um das Selbstbild der jungen Frauen und die Rolle, die sie in sozialen Medien spielen. Was hat Sie an dieser Differenz interessiert?

Ayub: Das Leben mit Alter Egos im Internet hat mich schon in vielen meiner Kurzfilme fasziniert. Man kommt nicht daran vorbei, wenn man ehrlich von Jugend erzählen will. Mit gefällt auch das Visuelle an mit Handy gefilmten Szenen. Jeder ist der Filmemacher seines Lebens. Das funktioniert wie ein Newsflash der Emotionen der Mädchen. Es zeigt auch die Schnelllebigkeit an: Heute bin ich das, morgen will ich das sein. Auch wenn es oberflächlich scheint, wird hier ein Problem sichtbar, diese Verlorenheit.

STANDARD: Hat sich der Druck, entsprechen zu müssen, durch soziale Medien noch radikalisiert?

Ayub: Es fällt auf, wie gut sich die Mädchen selbst darstellen. Sie wissen von den Influencern, wie sie sich anziehen und reden sollen. Das ist schräg. Früher hatten wir das nicht. Wir hatten auf Myspace die Emo-Prinzessinnen. Ich war eine davon. Es ist noch schwieriger geworden für junge Frauen, dem Ideal einer sexy Influencerin zu entsprechen. Jetzt sind überall Filter darüber. Heute sieht nicht nur Britney Spears geil aus, sondern tausend andere, die deine Nachbarin sein könnten. (Dominik Kamalzadeh, 5.4.2022)