Vor drei Jahrzehnten brach in Österreichs Nachbarschaft der Bosnienkrieg aus. Der ehemalige Hohe Beauftragte der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina, Christian Schwarz-Schilling, liest aus den historischen Erfahrungen einiges heraus, das sich auf eine aktuelle Politik der EU in Bezug auf den russischen Überfall auf die Ukraine projizieren ließe.

Christian Schwarz-Schilling (91) war 2006–2007 der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina – und damit verantwortlich für die Überwachung des Friedensabkommens von Dayton.
Foto: imago images / Seeliger

STANDARD: Was sollte die internationale Gemeinschaft aus dem Bosnienkrieg lernen, um nicht dieselben Fehler im Fall des russischen Krieges gegen die Ukraine zu machen?

Schwarz-Schilling: 30 Jahre nach dem Kriegsbeginn in Bosnien und Herzegowina und 26 nach dem Abschluss des Dayton-Friedensabkommens müsste man gelernt haben, dass man auf keinen Fall falsche Kompromisse machen darf – einerseits was die geografische Ausdehnung eines Staates angeht und andererseits was die Weiterentwicklung dieses Staates unter Beachtung rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien betrifft. Der Friedensvertrag von Dayton hat unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft zwar den Krieg beendet – aber durch die Möglichkeit, sich nicht an diese Prinzipien halten zu müssen, den Staat funktionsunfähig gemacht. Der Krieg – so muss man leider feststellen – wurde in all den Jahren eigentlich mit diplomatischen Mitteln weitergeführt und damit praktisch zugunsten des Aggressors entschieden. Solche Fehler darf man nicht wiederholen.

STANDARD: In Ihrem Buch der "Der verspielte Frieden" kritisieren Sie die politischen Fehler in der Nachkriegszeit. Welche neuerliche Orientierung an Werten und Standards in der internationalen Politik braucht es, damit Europa wieder Glaubwürdigkeit auf der Weltbühne erhält?

Schwarz-Schilling: Ich habe in meinem Buch beschrieben, wie die internationale Gemeinschaft Bosnien-Herzegowina vor 30 Jahren fallen ließ. Damals wollte die internationale Gemeinschaft nicht erkennen, was für eine Gefahr von Slobodan Milošević ausging und dass er eigentlich ein Großserbien als Ziel hatte – genau wie Putin heute ein Großrussland mit der Ukraine anstrebt. Damals handelte es sich bei Bosnien-Herzegowina um vier Millionen Menschen, heute sind es 40 Millionen in der Ukraine.

Ein Vergleich der beiden Kriege ist schwierig, aber eines ist beiden doch gemeinsam: Man muss lernen, dass eine Appeasement-Politik im Kleinen oder Großen nie etwas Gutes bringen kann. Schlimme Entwicklungen nur zu beobachten und zu hoffen, dass es zu keinem furchtbaren Ausgang kommen kann, ist naiv und unrealistisch. Putin hat schon vor einigen Jahren in Georgien und auf der Krim gezeigt, wozu er bereit ist. Wir haben sehr konfus und ungenügend reagiert. Und er hat ungehindert seine Politik weitergeführt.

Bericht über getötete Zivilisten in Butscha und Borodjanka in der Nähe von Kiew.
DER STANDARD

STANDARD: Die internationale Politik hat jahrelang Bosnien und Herzegowina gar nicht geholfen. Die meisten Menschen wurden bereits 1992, im ersten Jahr des Krieges, wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit ermordet – also bloß deshalb, weil sie muslimische Namen hatten.

Schwarz-Schilling: Die furchtbaren Bilder, die wir jetzt aus Butscha in der Ukraine erhalten haben, erinnern uns an die Kriegsverbrechen des Bosnienkriegs. Dass die EU jetzt angesichts des Ukraine-Krieges einen Schulterschluss gemacht hat und eine gemeinsame Politik voranbringt, ist ein gutes Zeichen für eine Neuorientierung. Es ist sehr wichtig, dass es bei diesem Paradigmenwechsel bleibt, so wie es der deutsche Kanzler Olaf Scholz gesagt hat: Es ist eine Zeitenwende.

Wir müssen verstehen, dass wir bereit sein müssen, unsere Werte jederzeit zu verteidigen. In Bosnien wurde damals zum Glück der Luftraum über dem Staat gesperrt, sodass es keine Zerstörungen durch Luftbombenangriffe geben konnte. Wenn nun westliche Luftstreitkräfte überraschend schnell dem Hilfeersuchen, den ukrainischen Luftraum zu schließen, nachgekommen wären, wären die grausamen russischen Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung wirkungslos geblieben. Damit wäre die Nato keineswegs eine Kriegspartei geworden, sondern sie hätte die Ukraine in ihren Friedensbemühungen unterstützt.

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Auch drei Jahrzehnte nach dem Bosnienkrieg sind dessen Spuren noch sichtbar, etwa auf diesem Grundstück bei Sarajevo (Aufnahme vom 4.4.2022).
Foto: AP Photo/Armin Durgut

STANDARD: Sprechen wir nun über Bosnien-Herzegowina: Welche Schritte wären jetzt wichtig, um das drohende Zerbrechen des Staates zu verhindern?

Schwarz-Schilling: Gerade jetzt ist es wichtig zu agieren, nicht nur zu reagieren und abzuwarten, dass Herr Dodik (Milorad Dodik, Chef der größten bosnisch-serbischen Partei SNSD und Mitglied im Staatspräsidium, Anm.) eines Tages die Republika Srpska abspaltet. Die internationale Gemeinschaft müsste schon längst ernsthafte Schritte unternommen haben. Diejenigen, die gegen das Dayton-Friedensabkommen verstoßen, müssen spürbare Sanktionen bekommen. Wenn das wegen der Einstimmigkeitsklausel der EU-Staaten in Brüssel nicht geht, dann muss die große Mehrheit der europäischen Staaten durch unilaterale Sanktionen die Maßnahmen durchsetzen.

Zudem sollte man die Einrichtung des Hohen Repräsentanten unterstützen – denn dort liegen ja die so genannten Bonner Vollmachten. Um diese einzusetzen, müsste auch die internationale Gemeinschaft ihre feste Unterstützung geben. Wichtig wäre meiner Meinung nach auch, die EU-Militärmission Eufor zu verstärken und Bosnien-Herzegowina den Weg in die Nato zu ebnen.

STANDARD: Dodik hat einige Gesetze in Gang gebracht, die der Sezession der Republika Srpska den Weg ebnen sollen. Aber niemand hat reagiert. Dodik ist zudem Putins bester Mann auf dem Balkan, er hat einen direkten Draht zum Kreml.

Schwarz-Schilling: Worauf wartet man eigentlich? Dass Dodik alle Gesetze, die dem Daytoner Friedensabkommen widersprechen und die er schon im Herbst angekündigt hat, im Parlament der Republika Srpska verabschiedet? Und was dann? Damit kommen wir wieder zu meinem Buch zurück: Die internationale Gemeinschaft ist, wenn es um Bosnien-Herzegowina geht, zu passiv, uneinig, desinteressiert. Wenn der jetzige Krieg gegen die Ukraine, der auch den westlichen Balkan gefährden kann, nicht alle wachrüttelt, dann geht es der Selbstbehauptung Europas an den Kragen. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 6.4.2022)