Präsident Selenskyj übergibt einen Orden an einen Verwundeten.

Foto: imago / Zuma / Ukraine Presidency

Im Zuge der Rückeroberung der ukrainischen Hauptstadtregion ist auch am Montag mehr und mehr das Ausmaß der Zerstörung und vor allem der in dem Gebiet verübten möglichen Kriegsverbrechen deutlich geworden. In Butscha nordwestlich von Kiew wurden die Leichen von mehr als 400 Menschen registriert, sowohl in einem Massengrab als auch auf offener Straße.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach zum wiederholten Male von "russischen Kriegsverbrechen" – doch aus Moskau bekam er ein weiteres Mal ein Dementi zu hören: Die Aufnahmen toter Zivilisten in Butscha seien als Teil einer Verschwörung der USA "bestellt" worden. Ziel dieser Aktion sei, Russland die Schuld zu geben.

"Wer sind die Meister der Provokation? Natürlich die USA und die Nato", sagte Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa am späten Sonntagabend in einem Interview im Staatsfernsehen. Der Aufschrei des Westens angesichts der Bilder beweise, dass die Geschichte Teil eines Plans gewesen sei, Russlands Ruf zu beschmutzen. "In diesem Fall scheint mir, dass die Tatsache, dass diese Aussagen über Russland in den ersten Minuten nach dem Erscheinen dieser Materialien gemacht wurden, keinen Zweifel daran lässt, wer diese Geschichte befohlen hat."

Biden fordert "Kriegsverbrecherprozess"

Westliche Politikerinnen und Politiker sehen das freilich völlig anders. US-Präsident Joe Biden etwa forderte einen "Kriegsverbrecherprozess". Zunächst müssten aber zusätzliche Informationen gesammelt werden. Auch Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron forderte eine internationale Untersuchung der Vorfälle. Darin wird er von der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, unterstützt: "Es sollte alles getan werden, um Beweise zu sichern", sagte diese am Montag. Alle Leichen sollten exhumiert, identifiziert und untersucht werden. Es gehe darum, "schwerwiegende und beunruhigende Fragen über mögliche Kriegsverbrechen" und andere Rechtsverletzungen aufzuklären.

Im Kriegsgebiet selbst drohte indes der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow der russischen Armee mit Vergeltung: "So etwas Böses darf nicht ungestraft bleiben. Unsere Aufklärung identifiziert systematisch alle Eindringlinge und Mörder. Alle! Jeder wird zu seiner Zeit bekommen, was er ‚verdient‘ hat", postete er auf Facebook. Der Bürgermeister von Kiew, der Ex-Boxer Witali Klitschko, sprach von "Horrorszenen" und einer "schrecklichen Realität" auch in anderen Umlandgemeinden wie Irpin. "Der Aggressor muss einen hohen Preis für das Leben tausender Ukrainer zahlen. Wir werden nicht vergeben, was unseren Städten und unseren Einwohnern angetan wurde."

Im Süden des Landes war es unterdessen für das Rote Kreuz weiter nicht möglich, in die Hafenstadt Mariupol vorzudringen. Seit Wochen wird die Stadt belagert und systematisch bombardiert. Im Norden der Ukraine vermeldete der Gouverneur der Region Sumy, dass die Russen von dort größtenteils abgezogen seien. Diese Truppenbewegungen könnten allerdings ein Hinweis darauf sein, dass Russland seine Offensive auf die im Osten gelegene Donbass-Region neu ausrichtet, warnte das britische Verteidigungsministerium.

Weitere Sanktionen im Gespräch

Die Nachricht von mutmaßlichen Kriegsverbrechen in der Hauptstadtregion stieß neue Sanktionsdebatten in der EU an. Auch für Italiens Außenminister Luigi Di Maio war es nun genug. Er, der wegen der teilweise prorussischen Ausrichtung seiner Fünf-Sterne-Bewegung zuletzt auf der Bremse stand, erklärte am späten Sonntagabend im italienischen Fernsehen, dass Italien auf der Basis der neuesten Erkenntnisse kein Veto einlegen werde gegen eine harte, fünfte Sanktionsrunde der Europäischen Union gegen den Kriegsaggressor Russland.

"Dieses Massaker wird alles beschleunigen und zu weiteren Sanktionen gegen Moskau führen", bestätigte Di Maio. Bereits in den nächsten Tagen solle in Brüssel über das fünfte Sanktionspaket gegen Russland beraten werden, in einer Woche könnten die Außenminister dann formell ihren Teil zu diesem Paket verabschieden", fügte der Minister hinzu.

Wie dieses europäische Sanktionspaket im Detail aussehen könnte und ob es auch diesmal eine darüber hinausgehende Koordinierung – etwa mit den USA – geben wird, war vorerst nicht bekannt. Jedenfalls kündigte auch US-Präsident Joe Biden weitere Sanktionen gegen Russland an. Sein Sicherheitsberater Jake Sullivan sagte bei einem Pressebriefing, dass das neue Maßnahmenpaket noch diese Woche präsentiert werde.

Die EU werde "dringend die Arbeit an weiteren Sanktionen gegen Russland vorantreiben", erklärte am Montag auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. "Die Massaker in der Stadt Butscha und anderen ukrainischen Städten werden in die Liste der auf europäischem Boden begangenen Gräueltaten aufgenommen." Frankreichs Präsident Emmanuel Macron forderte, Russland vor der internationalen Justiz wegen Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen. "Es ist klar, dass es heute ganze klare Hinweise auf Kriegsverbrechen gibt. Es war die russische Armee, die in Butscha war", sagte Macron.

Berlin weist russische Diplomaten aus

Unterdessen lud der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Deutschlands Ex-Kanzlerin Angela Merkel zu einer Reise nach Butscha ein: So könne sie sich dort ein Bild ihrer "gescheiterten Russland-Politik" machen. Auch der Papst will helfen: Auf dem Rückweg von seiner Pastoralreise in Malta erklärte Franziskus, er stehe für eine Rolle als Vermittler "zur Verfügung".

Die deutsche Bundesregierung hat inzwischen 40 russische Diplomaten zu "unerwünschten Personen" erklärt. Die Betroffenen hätten "hier in Deutschland jeden Tag gegen unsere Freiheit, gegen den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gearbeitet", erklärte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am Montag. "Dies werden wir nicht weiter dulden." Litauen, ein baltisches EU- und Nato-Mitglied, hat am Montag den russischen Botschafter des Landes verwiesen. Seinerseits werde man wieder einen Botschafter nach Kiew schicken, hieß es. Und am Montagabend zog auch noch Frankreich nach und kündigte an, mehrere russische Diplomaten auszuweisen. (red, 4.4.2022)