Der Ökonom Nikolaus Kowall widmet sich im Gastkommentar den Schattenseiten der liberalen Weltwirtschaftsordnung.

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China führt es vor: Kapitalismus funktioniert auch ohne Demokratie.
Foto: Reuters / Aly Song

"Wandel durch Handel" lautete über Jahrzehnte die Zauberformel der europäischen Außenpolitik. Hinter dem Konzept steckt die Idee, gemeinsamer Handel vermindere das Risiko gewaltsamer Konflikte. Überdies gab es historisch noch keine Demokratie ohne Marktwirtschaft, insofern unterstütze die Ausdehnung der liberalen Weltwirtschaftsordnung die Demokratisierung. Wohlstand, Demokratie und Frieden waren die zentralen Versprechen der jüngsten Globalisierung, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion volle Fahrt aufnahm.

Wohlstand

Ein Blick auf die neuen EU-Mitgliedsländer sowie nach Süd- und Ostasien zeigt, es gibt tatsächlich ganze Weltregionen, wo Millionen von Menschen im Rahmen der jüngsten Globalisierung der Armut entkamen. Mexiko, Russland, Japan, Südafrika oder Italien sind hingegen Beispiele dafür, dass viele Staaten seit 1990 wirtschaftlich zurückgefallen sind.

Aber nicht nur zwischen den Nationen gibt es Verliererinnen und Verlierer, auch innerhalb vieler Staaten ist die Ungleichheit angestiegen. Unter den Bedingungen des Standortwettbewerbs konnten und wollten die Regierungen dem wenig entgegensetzen. Das politische Gewicht hat sich von den nationalen Demokratien in Richtung der global tätigen Konzerne verschoben. Sowohl die sozialen Probleme als auch die Begrenzung politischer Spielräume durch "Sachzwänge der Globalisierung", bereiteten den Boden für Nationalismus und Rechtspopulismus. Die liberale Demokratie zersetzte sich von innen – Stichworte Trump, Brexit, Orbán. Der globale Handel hat Erfolge hervorgebracht, der damit verbundene Wandel aber auch viele Probleme.

Demokratie

Die globale Demokratisierung war kein Erfolg. Es stimmt zwar, dass es noch nie eine Demokratie ohne Marktwirtschaft gab, aber umgekehrt kann die Marktwirtschaft sehr gut ohne Demokratie. Der Kapitalismus funktioniert sogar mit einer "kommunistischen" Ein-Parteien-Regierung wie in China exzellent. Im Westen dachte man, wir exportieren die Demokratie gemeinsam mit unserem Kapital. Wir haben zwar Kapital und Technologie exportiert, aber nicht Rechtsstaat, Demokratie und Gewaltenteilung. In Russland, Brasilien, der Türkei und auf den Philippinen ist die Demokratie längst auf dem Rückzug. In China konnte sie gar nicht erst entstehen oder wird, wie in Hongkong, rückgebaut. Wir exportieren nicht nur keine Demokratie, wir importieren obendrein autoritäres Gedankengut. Davon entsteht bei uns auch so genug, aber die ideologischen Importe aus den russischen Trollfabriken gießen noch mal Öl ins Feuer. "Wandel durch Handel" wurde für die liberale Demokratie zum Bumerang.

Frieden

Eine enge wirtschaftliche Verflechtung wirkt nicht konflikthemmend. Der politisch laut ausgetragene Handelsstreit zwischen der Regierung des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und Peking entstand nicht trotz, sondern wegen des enormen Handelsvolumens zwischen den USA und China. Der aktuelle Krieg in der Ukraine, in dem die EU faktisch Partei ist, erfolgte, obwohl die Union Russlands größer Handelspartner ist. Auch unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg erreichte die globale Handelsverflechtung ein Rekordniveau. "Wandel durch Handel" trifft in Bezug auf den Weltfrieden nicht zu.

Integration in westliche Hemisphäre …

Putins Aggressionskrieg führt zu seltener transatlantischer Einigkeit. Die meisten Europäerinnen und Europäer werden froh sein, wenn die USA ihr hohes Engagement beibehalten, solange der Krieg noch wütet. Im schlimmsten Fall kann es noch Jahre dauern. Das soll nicht daran hindern, sich Gedanken über das "Danach" zu machen. "Die westliche Hemisphäre muss zu einem großen Freihandelsraum umgebaut werden", heißt es dazu im "Handelsblatt", und für den deutschen Finanzminister ist es an der Zeit, die transatlantischen Beziehungen durch ein Freihandelsabkommen zu vertiefen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie möchte mehr Freihandel mit Südamerika und ein Signal für "Marktöffnungen und Multilateralismus" senden. Es geht also darum, Freihandelsabkommen, wie sie die EU mit Kanada und Japan bereits realisiert hat, nun mit den USA, Großbritannien und Südamerika abzuschließen.

Aber genau diese liberale Weltwirtschaftsordnung führte dazu, dass wir bei Erdöl auf Despoten-Staaten angewiesen sind und obendrein an Wladimir Putins Gashahn hängen. Die 80-prozentige Abhängigkeit Österreichs ist das Resultat einer schon kriminellen Fahrlässigkeit. Während der Pandemie zeigte sich, dass die EU bei Penicillin auf Indien und bei Schutzbekleidung auf China angewiesen war. Eine engere wirtschaftliche Anbindung an Jair Bolsonaros Brasilien oder an eine USA, deren nächster Präsident wieder Donald Trump heißen könnte, ist nicht mehr als das geringere Übel. Wer ein Zurück zur liberalen Weltwirtschaftsordnung möchte, hat den Knall nicht gehört. Eine Wiederauflage der 1990er-Jahre wäre ein fataler Fehler, der alle Erfahrungen der letzten 30 Jahre ignoriert.

Die EU muss wieder Augenhöhe zwischen Demokratie und Kapital herstellen.
Foto: APA/dpa/Felix Hörhager

… oder autonome EU

Was wir im 21. Jahrhundert wirklich brauchen, ist eine autonome EU. Voraussetzungen dafür sind (regionale) Ernährungssouveränität und europäische Energieautarkie. Wir brauchen eine europäische Industriepolitik, um die Ökologisierung der Wirtschaft voranzutreiben. Der Kampf gegen den Klimawandel muss natürlich global geführt werden. Doch anstatt sich auf andere auszureden, soll die EU selbst ein Beispiel für Best Practice werden. Wir brauchen Lieferkettengesetze, die den Handel ethischen Standards unterwerfen – das wäre die Bändigung der Globalisierung nach außen. Nach innen brauchen wir EU-Standards in den Bereichen Löhnen, Umwelt und Steuern, um den ruinösen Standortwettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten zu unterbinden. So wäre Augenhöhe zwischen Demokratie und Kapital wiederhergestellt. Die EU muss dafür sorgen, dass im Verhältnis zwischen Politik und Konzernen der Hund mit dem Schwanz wedelt und nicht umgekehrt.

In einer solchen Spielanordnung hätte es für EU-Bürgerinnen und -Bürger viel geringere Auswirkungen, was Russland, Saudi-Arabien, China aber auch die USA wirtschaftlich machen. Und wem die sozialen, ökologischen und demokratischen Gründe nicht ausreichen, der schenkt vielleicht den aktuellen geopolitischen Argumenten Gehör: Wie sich eine wirtschaftlich autonome EU außenpolitisch verhält, könnte sie nämlich nach rein politischen Gesichtspunkten entscheiden. Sie wäre in ihrer Außenpolitik von wirtschaftlichen Erwägungen unabhängig. (Nikolaus Kowall, 12.4.2022)