Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren lernen in der Neu-in-Wien-Klasse in der Kleistgasse gemeinsam Deutsch – sogar in den Pausen, wenn Spielzeugautos verteilt werden.

Foto: Regine Hendrich

"Schön, dass ihr da seid! Eure 1B", steht auf dem Plakat neben der Tafel. Verziert ist es mit Katzen, Tigern, Herzen, der ukrainischen und der österreichischen Flagge. Davor sitzen Schülerinnen in drei Reihen auf ihren Bänken und malen mit Buntstiften geometrische Formen aus, weiter hinten schreiben Schüler "Quadrat" oder "Dreieck" daneben. Eine Lehrerin hockerlt neben einer Schülerin und hilft ihr mit den Buchstaben. Die andere Lehrerin, Gabriela Maier-Skorpik, steht vorn am Pult. Teilweise erstelle sie die Texte selbst, andere Lernunterlagen habe sie noch von den Deutschförderklassen, in denen sie vor ihrer Pensionierung unterrichtet hat – die Pension liegt vorerst auf Eis.

Die Nationalfarben findet man in der Klasse in allen Formen.
Foto: Regine Hendrich

Jetzt ist "Spiiiiielpause", ruft Maier-Skorpik und spart dabei nicht bei der Vokalbetonung. Kaum fällt das Wort, wird die Ruhe von kindlichem Stimmengewusel durchbrochen. Maier-Skorpik packt gelbe, rote und blaue Spielautos aus. Das bleibt nicht lange unbemerkt. "Can I have a car?", fragt eine Schülerin. Die Frage wird sie gleich noch einmal auf Deutsch stellen.

Eingespielte Klasse

Autovergleich, Stifttausch, spielende Gruppen: Die 18 ukrainischen Schülerinnen der Volksschule Kleistgasse im dritten Wiener Gemeindebezirk wirken wie eine eingespielte Klasse. Dabei sind manche von ihnen erst seit zwei oder drei Tagen hier. Der vor sechs Wochen begonnene russische Angriffskrieg gegen die Ukraine machte sie und ihre Mütter zu Vertriebenen. Seither zählt Wien bereits 2.000 registrierte ukrainische Kinder in schulpflichtigem Alter. Für sie wurden nun in der Hauptstadt sogenannte Neu-in-Wien-Klassen geschaffen. Kinder unterschiedlicher Schulstufen sollen hier in Ruhe ankommen und die deutsche Sprache lernen – und danach in Regelklassen wechseln.

An Lehrerin Elina Pivovarcsuk können sich die Kinder auf Ukrainisch wenden.

An ihrer Seite haben sie Maier-Skorpik und Elina Pivovarcsuk. Beide gehören zu jenen Menschen, nach denen im österreichischen Bildungssystem derzeit händeringend gesucht wird: Maier-Skorpik als pensionierte und Pivovarcsuk als multilinguale Lehrerin. Die Ukrainerin lebt seit sieben Jahren in Wien, in ihrer Heimatstadt drei Stunden südlich von Kiew hat sie früher an einer öffentlichen Volksschule unterrichtet. Jetzt wird auch ihre Heimatstadt vom Krieg heimgesucht. Als sie mit ihren Eltern und Schwiegereltern nach Beginn des russischen Angriffs telefonierte, hörte sie am anderen Ende der Leitung ständig Sirenen. Vor kurzem gelang ihnen die Flucht nach Österreich. Jetzt sind sie bei ihr in ihrer "kleinen" Wohnung – seither gehe es ihr wieder besser. Während sie erzählt, schwärmen die Kinder mit den Autos in alle Winkel der Klasse aus. "Meine Gaby!", ruft Pivovarcsuk und lässt ihren Arm um die Schulter von Maier-Skorpik fallen. Seit einer Woche kennen sich die beiden, diese Ausnahmesituation habe sie zusammengeschweißt: "Wir sind ein Team", sagen beide synchron.

Von heute auf morgen

Wie schnell alles gehen musste, schildert auch Direktorin Elke Zach. "Am Mittwoch kam der Anruf der Bildungsdirektion." Am Montag standen die ersten Schüler schon da. Herausfordernd sei das gewesen, "gleichzeitig habe ich gewusst, dass wir das schaffen". Weil freie Klassenräume nicht vom Himmel fallen, wurde der Musikraum prompt umfunktioniert, "hier hatten wir genügend Tische".

Derzeit hängt es vom Bundesland – und seinen freien Schulplatzen – ab, wie Kinder aus der Ukraine unterrichtet werden. Während zuvor alle Bundesländer auf Auffüllen regulärer Klassen setzten, inklusive Wiens, stößt man in der Bundeshauptstadt mittlerweile an seine Grenzen. "Wenn in Regelklassen kein Platz mehr ist, werden NiW-Klassen eröffnet", heißt es auf STANDARD-Nachfrage vonseiten der Wiener Bildungsdirektion. Darum wird es bei den derzeitigen zehn Klassen nicht bleiben, "mit 6. April werden 18 NiW-Klassen eingerichtet sein". Das schwierigste Unterfangen stellt dabei die Personalsuche dar: Insgesamt wurden laut Bildungsdirektion bereits 33 Lehrerpersonen – 18 mit Ukrainisch als Erstsprache, fünf pensionierte und zehn Deutsch-als-Fremdsprachen-Lehrer – eingestellt. Auch unter Studierenden will man rekrutieren. Im Unterschied zu herkömmlichen Deutschförderklassen stehen in den NiW-Klassen zwei Lehrpersonen zur Verfügung.

Zu früh für Fragen

Alina zeigt ihre Zeichnung.
Foto: Regine Hendrich

Angesichts des andauernden Krieges in ihrem Heimatland ist ungewiss, wie lange die Kinder in Wien bleiben – und wie es mit der Schule weitergeht. Bei den Älteren in der Klasse stünde nach dem Sommer ein Schulwechsel bevor. Auf diesen will sie Maier-Skorpik bestmöglich vorbereiten. Bis sie die deutsche Sprachmelodie intus haben, brauche es natürlich noch, aber "sie sprechen eh schon fleißig". Was Pivovarcsuk in der ersten Woche noch Wort für Wort übersetzt hat, wird nun mit "Händen und Füßen" auf Deutsch erklärt.

Welche individuellen Fluchtgeschichten die Schulkinder mit nach Österreich bringen, fragen beide nicht. Dafür sei es noch zu früh. "Sie müssen zuerst ankommen und das alles setzen lassen", sagt Maier-Skorpik. Wie sehr die zehnjährige Alina ihre Heimat vermisst, verrät ihre Zeichnung. "Das ist ein Mädchen mit traditionellem Blumenkranz", sagt sie. Ein paar Klassenkollegen wurden auch schon konkreter: "In einem Monat gehe ich zurück, dort ist mein Papa und meine Oma", hätten manche Kinder schon zu Pivovarcsuk gesagt, die zur Seite blickt. "Wir müssen jetzt stark und positiv sein." (Elisa Tomaselli, 5.4.2022)