Manchmal sind Inflexibilität und Stursein gar nicht schlecht. Oder das Warten, dass sich halt wer anderer als Erster rührt. Weil: Wenn keiner oder keine was sagt, bleibt alles wie ursprünglich geplant. Auch wenn sich alle sicher sind, dass der Ursprungsplan in die Hose gehen wird.

Von Letzterem war ich am Samstag überzeugt: Ich stand auf der Prater-Hauptallee und erfror fast, während ich auf die Läuferinnen (m)eines Yogastudio-Laufworkshops wartete – die nicht kamen. Wenig verwunderlich: Die Hauptallee, an Samstagmittagen sonst voll wie der Naschmarkt, war menschenleer. Es hatte keine 2 Grad.

Neben mir bibberte eine Lauftrainerin. Ebenso vergebens, ebenso verständnisvoll: Tags zuvor hatte es fast 20 Grad gehabt – aber jetzt blies der Wind den "Strip" menschenleer. Für den Abend war Schnee angesagt. "Wenn ich nicht müsste, wäre ich ja auch nicht hier", sagte die Frau.

Foto: Tom Rottenberg

Der Plan, den ich da am Samstag vorab verfluchte, war der für den Sonntag: Eine Vereinskollegin hatte vor drei Wochen beklagt, dass sie noch nie U4–U4 gelaufen sei. Jene Route also, bei der man von einer Endstation der U4 zur anderen rennt. Nicht durch die Stadt, sondern durch den Wienerwald.

U4–U4 ist ein Klassiker. Aber wenn Sie und Ihre Lauf-Buddies jetzt auf diversen Trail- und Routen-Apps nach dieser Runde suchen, wird wohl jeder und jede andere Tracks von Heiligenstadt nach Hütteldorf finden: Distanz, Höhenmeter, Richtung – bis auf die beiden Endpunkte ist da kaum etwas eindeutig.

Foto: www.komoot.de

Dennoch postuliere ich jetzt und hier einfach ins Blaue, dass der einzig gültige und wahre Klassiker jener ist, den ich hiermit dazu erkläre: von Heiligenstadt den Fluss entlang über das Kahlenbergerdörfl und den Nasenweg auf den Leopoldsberg – und dann über die Rückseite des Kahlenberges über Hermannskogel, Hameau und Sophienalpe zum Baumgartnerwald und über die Knödelhüttenstraße nach Hütteldorf.

Optional – etwas länger – auch via Mostalpe, Mauerbachstraße und Hadersdorf.

Aber auf keinen Fall ist die Gegenrichtung zulässig. Und wer bei U4–U4 Jubiläumswarte, Hanslteich, Schwarzenbergpark einbezieht oder durch Neustift, Sievering und Grinzing kommt, hat sowieso alles falsch gemacht. Auch wenn derlei schon als FKT-Wettkampfroute (Fastest-Known-Time-Route) kommuniziert worden ist.

Foto: Tom Rottenberg

Ja eh: Derlei zu behaupten ist natürlich kompletter Blödsinn. Weil jeder und jede so rennen soll, wie er oder sie es am liebsten hat. Weil jede der möglichen Routen wunderschöne Momente bietet. Und weil jede Variante "knackig" ist: Weniger als 15 oder 16 Kilometer bei 400 Höhenmetern wird auf dieser Wienerwaldstrecke niemand schaffen.

Dennoch: Für mich sind Donaukanal, das Nussdorfer Einlaufwehr und die paar Hundert Meter bis zum Kuchelauer Hafen elementare Bestandteile von U4–U4. Weil sie ein diverseres Bild der Stadt liefern als "nur" der Wald und die Hügel.

Genauso wie das "Loch": Natürlich könnte man auch über die reguläre Unterführung der Kuchelauer Hafenstraße ins Kahlenbergerdörfl kommen. Aber den grindigen Schluf neben der Jausenstation zu nehmen ist hier ein Stück läuferischer Tradition.

Foto: Tom Rottenberg

Auch weil das dem Blick über die Stadt dann noch mehr "Per aspera ad astra" verleiht. Obwohl das Schnaufen und Keuchen den Nasenweg hinauf eh schon "asper" – also "rau" – genug ist, um das Panorama dann als "astra" (die Sterne – also der Mühe Lohn) zu erleben.

Auf den Treppen (ich gehe spätestens ab dem dritten Absatz) erzähle ich hier meist eine Geschichte. Die von den vertauschten Bergnamen von Kahlen- und Leopoldsberg.

Blöderweise habe ich die aber nicht nur verbaliter, sondern sogar hier (zuletzt im Februar hier) schon etliche Male referiert: Viele Läuferinnen und Läufer kennen sie also schon.

Manchmal erzählen sie sie hier dann "Rookies", also Läuferinnen und Läufern, die noch nie hier waren. Wenn die dann staunen, halte ich die Klappe – und freue mich, wenn sich die Erzählenden wie Schneemänner über "ihre" Geschichte freuen.

Foto: Tom Rottenberg

Apropos Schneemänner: Sonntagmorgen haben der Wetterbericht und der Blick auf die angezuckerten Hügel meine Samstagsskepsis nicht gerade verschwinden lassen. Sogar bei der Anreise, in der U-Bahn, hatte ich noch überlegt, ob ich nicht doch vorschlagen sollte, "unten" zu bleiben: die Donau runter, in die Lobau – das wäre eine flache, "sichere" Variante gewesen. Mit Rückenwind und Exitoptionen, falls Wetter und/oder Laune nicht passen sollten.

Jetzt aber, oben im Wald, erkannte ich: Das wäre ein richtig schwerer Fehler gewesen. Denn hier oben war das Laufsetting einzigartig. Und schlicht und einfach perfekt.

Ja, der Aprilschnee würde nicht lange liegen – aber jetzt, am Sonntagvormittag, liefen wir durch ein Winter Wonderland, wie wir es diesen Winter kaum oder gar nicht erlebt hatten.

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich war das auch ein bisserl "tricky". Nicht weil das bisserl Schnee das Laufen an sich tatsächlich massiv schwieriger oder herausfordernder gemacht hätte. Ganz und gar nicht. Das "technische" Problem war, dass zu wenig Schnee lag, um einfach sorglos rennen zu können: Schnee, der bei niedrigen Plusgraden lose liegt und gerade nicht anschmilzt, ist am Boden kaum zu spüren – liegt er aber auf Wurzeln (und versteckt sie), werden die sehr leicht höllisch rutschig.

Und wenn man, einfach weil es superschön ist, durch einen verschneiten Wald zu laufen, nur mit einem halben Aug auf den Weg schaut … und so weiter.

Ich hätte mit einigen Ausrutschern und Stürzen gerechnet – dass es keinen einzigen gab, störte aber niemanden.

Foto: Tom Rottenberg

"Meine" U4–U4-Variante führt nach dem Leopoldsberg zur Rückseite des Kahlenberges und nach diesem Schlenker nach Niederösterreich meist an der Stadtgrenze entlang. Nach der Jägerwiese, am Hermannskogel ("Wollen wir rasch rauf? Ist immerhin Wiens höchster Punkt." – "Eh, aber wenn die Aussichtswarte wegen Corona immer noch zu ist, sieht man trotzdem nix") vorbei, geht es über den Stadtwanderweg 2 zum Dreimarkstein und dem "Häuserl am Roan".

Dass der nächste Gupf Zwei Gehängte (447 Meter) heißt, ist übrigens der neue Eintrag dieses Laufes in mein persönliches Lexikon des unnützen Wissens über diese Region.

Denn dass am Hameau bis in die 1960er- oder 1970er-Jahre Skiequipment gelagert war, weil es damals im Wienerwald noch genug Schnee zum Skifahren gab, wusste ich schon.

Foto: Tom Rottenberg

Am Exelberg vorbei markiert der große Sendemast auf der Sofienalpe dann das Ende der knackigen Anstiege: Ab nun, nach etwas über 600 gemessenen Höhenmetern bergauf und etwas mehr als der Hälfte der Strecke, geht es, abgesehen von ein paar "Schupfern", eigentlich nur noch flach dahin – und dann bergab.

Freilich: Wenn man hier aus dem Wald auf die Wiesen kommt, die der Sofienalpe ihren Namen geben, sieht man das zunächst noch nicht wirklich. Aber man spürt es.

Foto: Tom Rottenberg

Dass die Sofienalpe Teil einer Millionenmetropole ist, muss man wissen – sehen kann man es nicht: Die Ecke hier hat seit jeher etwas Dornröschenhaftes. Zeit und Zeitgeist scheinen einen großen Bogen um sie gemacht zu haben: Die bunten quietschenden Kinderschaukeln zeugen davon ebenso …

Foto: Tom Rottenberg

… wie das gastronomisch seit Jahren unauffällige bis leblose Hotel Sofienalpe. In den letzten Jahren fiel es lediglich aufgrund der grandiosen Geschichte von der riesigen Hanfplantage auf zwei Stockwerken auf.

Foto: Tom Rottenberg

Im Tiefschlaf verharrt aber auch das Umland: Nach dem Hotel kommen die Hinweistafeln des "dauerhaft geschlossenen" Gasthauses 20 Gehminuten weiter: So schrieb man Telefonnummern, meines Wissens nach, zuletzt in den 1980er-Jahren. Auch darum würde mich beinahe interessieren, wer die händische Aufschrift auf der unteren Hinweistafel regelmäßig auffrischt: Sie verblasst nämlich nie ganz.

Foto: Tom Rottenberg

Danach geht es wirklich nur noch flach dahin und bergab. Zunächst noch über Wiesen, die tatsächlich an niedere Almen erinnern, dann noch einmal durch den Wald zurück in die Stadt, die man auf dieser Runde, außer auf der Rückseite des Kahlenberges, eigentlich nie verlassen hat.

Foto: Tom Rottenberg

Über die Knödelhüttenstraße – deren Name allein schon den Lauf dorthin wert wäre – geht es dann zur Hüttelbergstraße. Vorbei an der Fuchs-Villa. Und dann käme noch der kurze Schlenker zum Bahnhof Hütteldorf: fertig. U4–U4, der Klassiker. Rund 24 Kilometer – mit, je nach Messgenauigkeit des Weckers, zwischen 650 und 700 Höhenmetern.

Ein schöner, ruhiger Sonntagslauf.

Nur: Irgendwie war uns noch nicht nach aufhören. Also hängten wir noch ein paar Kilometer dran – unten, am Wienfluss. In der Stadt. Fein – aber oben, im April-Winter-Wonderland auf den Hügeln, war es eindeutig schöner.

Foto: Tom Rottenberg

Den Schlusspunkt setzten wir dann aber vor dem Schloss.

Schließlich liegt Schönbrunn ja auch an der U4 – auch wenn hier dann so gar nichts mehr auch nur im Entferntesten an den Winter, den Wald oder die Hügelei erinnerte – außer vielleicht das Strahlen in unseren Augen: Schöner, perfekter kann ein Sonntagslauf nicht sein.

Foto: Tom Rottenberg

Für die Statistiker: Aus geplanten 24 Kilometern waren 29 geworden. Meine Garmin zeigte 690 gelaufene Höhenmeter an, für die ich insgesamt drei Stunden und 18 Minuten gebraucht hatte. Rund zehn Minuten war ich gestanden.

Was sich auf Komoot, Connect und Strava aber nicht herauslesen lässt:

Hätte ich auf das gehört, was mir am Samstag der Blick auf die menschenleere Hauptallee und der eisige, pfeifende Wind geraten hatten, wäre ich anderswo gelaufen.

Oder gar nicht.

Und das wäre ein Fehler gewesen. (Tom Rottenberg, 5.4.2022)


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