Die arktischen Gewässer sind keine unberührte Wildnis mehr. In der Nahrungskette vom Bakterium bis zum Schwertwal sind alle betroffen – bis hin zum Menschen.
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Einige Studien der vergangenen Wochen dürften letzte Zweifel ausgeräumt haben, dass die Menschheit mitten im Plastikzeitalter steckt – und das Plastikzeitalter buchstäblich in uns: Im Darm landen wöchentlich fünf Gramm von dem langlebigen Material in Form von Mikro- und Nanopartikeln, bis in die Blutbahnen dringt es vor, wo es sich im gesamten Körper verteilen kann.

Dass es uns auch in Zukunft nicht an den winzigen Plastikteilchen mangeln wird, dafür sorgt das globale Müllaufkommen: Zwischen 19 und 23 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle landen derzeit jedes Jahr in den Gewässern der Welt und damit letztlich in den Ozeanen. Prognosen gehen davon aus, dass sich bis 2045 die globale Plastikproduktion verdoppeln wird.

Unentrinnbarer Kunststoff

Die Folgen dieser Entwicklung sind kaum absehbar. Fakt ist freilich: In immer kleinere Teile zerfallend, bleibt davon kein Lebewesen verschont. Heute kommen praktisch alle untersuchten Meeresorganismen – vom Plankton bis zum Pottwal – mit Plastikabfällen und Mikroplastik in Kontakt. Und das gilt für alle Bereiche der Weltmeere – von tropischen Stränden bis zu den tiefsten Meeresgräben.

Proben wurden von Eisschollen...
Foto: AWI/Mine Tekman

Selbst die menschenleeren Regionen der Arktis bekommen ihren Anteil am polymeren Zivilisationsmüll: Wie eine vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) im Fachjournal "Nature Reviews Earth & Environment" veröffentlichte Überblicksstudie zeigt, nimmt dort die Plastikverschmutzung rasant zu.

So schmutzig wie in dichtbesiedelten Gebieten

"Noch gilt die Arktis als weitgehend unberührte Wildnis", sagt Melanie Bergmann vom AWI. Ihr Review, das in Kollaboration mit Kolleginnen und Kollegen aus Norwegen, Kanada und den Niederlanden entstand, belege jedoch, dass diese Wahrnehmung nicht mehr der Realität entspricht, so die Biologin. "Unsere nördlichsten Ökosysteme sind bereits jetzt besonders stark vom Klimawandel betroffen. Dies wird nun durch die Plastikverschmutzung verschärft. Und unsere eigenen Untersuchungen haben gezeigt, dass die Verschmutzung weiter zunimmt."

... und im arktischen Meer entnommen.
Foto: AWI/Esther Horvath

Die Überblicksstudie belegt unter anderem, dass in allen untersuchten Lebensräumen der arktischen Meere ähnliche Verschmutzungsgrade mit Plastik herrschen wie in dichtbesiedelten Regionen der Welt. Die Quellen dieses Plastiks sind vielfältig. Neben lokaler Herkunft spielt auch weitgereister Kunststoff eine Rolle. Insbesondere Ozeanströmungen aus dem Atlantik und der Nordsee und über die Beringstraße aus dem Nordpazifik tragen zum Zustrom bei. Auch die Luft trägt kleines Mikroplastik gen Norden.

Großteils Fischereimüll

Dazu kommen die Flüsse. Der Arktische Ozean macht zwar nur rund ein Prozent des Gesamtvolumens der Weltmeere aus, erhält aber mehr als zehn Prozent des globalen Wasserzustroms durch Flüsse, die unter anderem aus Sibirien Plastik ins Meer spülen. Wenn dann im Herbst vor der Küste Sibiriens Meerwasser gefriert, wird treibendes Mikroplastik in die Eismatrix eingeschlossen. Das Eis bewegt sich dann mit der transpolaren Drift in die Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen, schmilzt dort im Sommer und gibt seine Plastikfracht wieder frei.

Zu den wichtigsten lokalen Verursachern zählen Müll und Abwasser aus arktischen Siedlungen und Plastikmüll von Schiffen – vor allem im Bereich der Fischerei. Besonders die Netze und Seile sind dabei ein großes Problem. Diese werden von Fischern absichtlich im Meer entsorgt oder gehen versehentlich verloren. Daher stammt ein Großteil des Mülls im europäischen Teil der Arktis aus der Fischerei: An einem Strand auf Spitzbergen waren es laut einer AWI-Studie fast 100 Prozent der angeschwemmten Plastikmasse.

Fernab jeglicher Zivilisation, auf einer Eisscholle im arktischen Meer vorüber treibend: Ein Pappkarton.
Foto: AWI/Melanie Bergmann

Wenig untersuchte Folgen

"Zu den Auswirkungen der Plastikflut speziell auf die arktischen Meeresorganismen existieren leider nur vergleichsweise wenige Studien", klagt Bergmann. "Viel spricht jedoch dafür, dass die Folgen ähnlich gravierend sind wie in besser untersuchten Regionen: Auch in der Arktis verheddern sich viele Tiere – Eisbären, Robben, Rentiere und Meeresvögel – im Plastik und sterben. Auch in der Arktis führt gefressenes Mikroplastik wahrscheinlich zu verringertem Wachstum und verringerter Fortpflanzung, zu physiologischem Stress und Entzündungsreaktionen im Gewebe von Meerestieren und durchfließt die Adern der Menschen."

Besonders dünn ist die Datenlage in Bezug auf eventuelle Rückkopplungseffekte zwischen Plastikmüll und Klimawandel. "Hier gibt es dringenden Forschungsbedarf", sagt die Biologin. "Denn erste Studien liefern Indizien dafür, dass eingeschlossenes Mikroplastik die Eigenschaften von Meereis und Schnee verändert."

Bild nicht mehr verfügbar.

Im Eis eingeschlossene Plastikteilchen machen es dunkler, was das Abschmelzen beschleunigen könnte.
Foto: AP/David Goldman

Mikroplastik könnte Eisschmelze beschleunigen

So könnten etwa viele dunkle Partikel im Eis dazu führen, dass es mehr Sonnenlicht absorbiert und dadurch schneller schmilzt. Das wiederum verstärkt über die sogenannte Eis-Albedo-Rückkopplung die globale Erhitzung. Außerdem bilden Plastikteilchen in der Atmosphäre Kondensationskerne für Wolken und Regen und könnten so das Wetter und langfristig das Klima beeinflussen. Und nicht zuletzt trägt Plastik über seinen gesamten Lebenszyklus derzeit mit 4,5 Prozent zum globalen Treibhausgasausstoß bei.

"Unsere Studie zeigt, dass die Plastikverschmutzung in der Arktis bereits ähnlich hoch ist wie in anderen Regionen der Welt. Das passt zu Modellrechnungen, die in der Arktis eine weitere Anreicherungszone prognostiziert haben", erklärt Bergmann. "Die Folgen sind hier aber vielleicht sogar noch ernster. Denn die Arktis erhitzt sich im Zuge des Klimawandels dreimal schneller als der Rest der Welt. Die Plastikflut trifft also auf Ökosysteme, die ohnehin schon extrem belastet sind."

Angesichts der aktuell zwei Lkw-Ladungen Plastikabfälle, die jede Minute im Meer landen, plädiert die Forscherin für wirksame, rechtsverbindliche Maßnahmen gegen Plastikmüll, die auch eine Verminderung der Plastikproduktion beinhalten. (tberg/red, 5.4.2022)