László Krasznahorkai: "Wenn wir etwas Wichtiges mitteilen wollen, haben wir keine Zeit für Punkte."

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Als Gast der Wiener "Erich-Fried-Tage" traf der ungarische Romancier László Krasznahorkai auf Kolleginnen wie Herta Müller. Er selbst sieht sich bis heute als Autor wider Willen: "Ich schrieb in den 1980ern ein erstes Buch, und es steckte voller Fehler! Also probierte ich es ein weiteres Mal: dasselbe Ergebnis. Seitdem befinde ich mich auf einer Art Rutschbahn – und schreibe."

STANDARD: In Ihrem aktuellen Roman Herrscht 07769 heißt es einmal: "Die Hoffnung ist ein Fehler." Erinnert das nicht an Kafkas Paradoxon? "Es gibt unendlich viel Hoffnung …"

Krasznahorkai: "Nur nicht für uns."

STANDARD: Sie haben sich bei den Fried-Tagen mit dem Thema "Fürsprache und Widerworte" beschäftigt. In Europa herrscht Krieg. Für wen sollte aktuell Fürsprache eingelegt werden?

Krasznahorkai: Für die Leidenden. Fürsprache muss man jetzt zum Beispiel für die Leute einlegen, die hilflos in Mariupol ausharren.

STANDARD: Sie haben sich in Ihren Werken vor allem mit unerklärten Kriegen beschäftigt. Hat Sie der Ausbruch eines offenen Krieges in Europa überrascht?

Krasznahorkai: Ja. In den Pausen der Geschichte steigen solche Figuren aus den Kanälen hoch wie dieser Geheimagent, der jetzt als Präsident die Russische Föderation regiert. Wissen wir irgendein wirksames Mittel gegen ihn und seinesgleichen? Er hat die Macht, er gebietet über eine Vielzahl an vernichtenden Möglichkeiten. Irgendwann rutscht jemand wie Putin zurück in die Kloake, aus der er herausgekrochen ist. Wir alle sind in der Zwischenzeit zum Stillhalten verurteilt. Wir sind weit weg vom Leid der Betroffenen. Wir empfinden Angst und Mitleid mit ihnen und sehen uns genötigt, diese unglaubliche Brutalität aus der Ferne zu beobachten, mit der die russische Armee gegen die Bevölkerung vorgeht: wieder und wieder.

STANDARD: Fordern Sie zu Gegenmaßnahmen auf?

Krasznahorkai: Was wollen Sie gegen ein großes Maschinengewehr ausrichten? Ein anderes, noch größeres dagegenhalten? Drei Maschinengewehre dagegenhalten? Das erscheint mir unsinnig.

STANDARD: In Herrscht 07769 schreibt ein ostdeutscher Eigenbrötler, der die Befürchtung hegt, die Welt stünde vor ihrer Auflösung, Briefe an Angela Merkel. Doch Antwort wird ihm von ihr, der Vertreterin der Macht, keine zuteil.

Krasznahorkai: Ich bin lediglich das Sprachrohr meiner Figuren. Ich lege nieder, was mir jemand wie dieser Florian diktiert. Dieser Riese bürdet mir seine Geschichte förmlich auf, mit allen seinen Empfindungen.

STANDARD: Wobei Sie ihre Sätze ohne Punkt, nur durch Kommata getrennt, aneinanderreihen.

Krasznahorkai: Weil ich seit jeher ohne Schreibmaschine oder Laptop gearbeitet habe. Ich schreibe alles im Kopf, manchmal fünfzig, sechzig Seiten. Das musste ich nicht trainieren, meine Erinnerungsmaschine funktioniert seit meiner Kindheit. Jetzt, im Alter, wird sie schwächer. Heute behalte ich ungefähr zwanzig Seiten auswendig im Kopf. Ich nehme Korrekturen vor, und erst wenn alles fertig ist, schreibe ich den Text nieder.

STANDARD: Gerechtfertigt scheint nicht nur für Florian die Existenz durch die Vollkommenheit der Musik Johann Sebastian Bachs.

Krasznahorkai: Ich spiele bis heute Klavier, mit Vorliebe Bach. Ich borge mir dabei Sequenzen von ihm und forme sie um. Erst im Älterwerden dachte ich daran, es wäre an der Zeit, etwas über Bach zu schreiben. Deswegen besuchte ich Ostdeutschland, die Bach-Stätten in Thüringen, Orte wie Eisenach. Auf einer solchen Reise lernte ich einen Riesen von brutaler Kraft kennen. Er erzählte mir seine Geschichte derart intensiv, dass ich sie sammeln und aufbewahren musste. Seine Suada war überwältigend, ich konnte sie nicht in kleinere Sätze aufteilen. Figuren aus einer solchen "anderen" Realität steht eine ganz andere Kraft zu Gebot. Dazu kommt: Der Punkt gehört nicht zu uns Menschen. Immer dann, wenn wir etwas sehr Wichtiges sagen wollen, bringen wir für Punkte keine Geduld auf. Wir haben keine Zeit für sie.

STANDARD: Legen Sie damit Protest gegen den Abschluss, gegen den Tod ein? Für Canetti bildete die Zeitlichkeit den eigentlichen Skandal.

Krasznahorkai: Für mich ist der Tod kein Skandal. Canetti war ein Extremist. Das bin ich vielleicht auch, aber von einer anderen Seite her. Mein Riese ist ein Engel mit zwei Gesichtern. Das erste Gesicht offenbart uns die Botschaft der Gefahren; das andere Rache, weil wir etwas falsch gemacht haben.

STANDARD: Wir begehen Fehler?

Krasznahorkai: Schreckliche Fehler. Der allergrößte besteht darin, Hoffnung zu haben. In der Anschauung meiner Romanfigur sähe das Modell folgendermaßen aus: Die Welt funktioniert symmetrisch. Das gilt für alle Prozesse, sie könnten bis in alle Ewigkeit fortdauern. Aber immer wieder passiert ein Fehler, und der verändert den ganzen Prozess. Das ganze Universum wurde überhaupt nur aufgrund eines Fehlers erschaffen. Die Hoffnung ist daher ein Fehler, aber nur in diesem Sinne.

STANDARD: Sie sind Mitteleuropäer und leben in Triest. Hat sich Europa seit dem 24. Februar 2022 komplett verändert?

Krasznahorkai: Vollständig, es ist nicht mehr dasselbe. Von einer anderen Warte aus betrachtet, hing Europas Entwicklung immer mit Kriegen zusammen. Erst durch die atomare Abschreckung schien das Führen großer Kriege unmöglich geworden. Bis dieser Moskauer Geheimdienstagent auf den Plan trat.

STANDARD: Die ungarischen Parlamentswahlen haben Viktor Orbáns Regime bestätigt. Bestand denn kurzzeitig die Chance auf eine Umwälzung der Verhältnisse?

Krasznahorkai: Gar nicht. Keine Hoffnung. Ungarn ist kein Land, sondern eine psychiatrische Klinik. Die Ärzte sind weggelaufen, die Insassen haben den Laden übernommen. Manchmal spielen sie gefährliche Spiele. Aber auch die Abwahl von Orbán hätte keine Veränderung der Situation bewirkt. Als Privatperson würde ich der Opposition nahestehen. Nun standen "wir" schon einmal, zweimal als Regierung in der Verantwortung. Unsere Möglichkeiten wurden nicht wegen irgendwelcher Fehler verspielt; die Mängel waren moralischer Natur. Wäre auch das Wunder eines oppositionellen Sieges eingetreten, so hätte es doch keinen großen Unterschied bewirkt. Vielleicht wären ein paar Husaren verschwunden, ein paar illiberale Kleinbürger. Mehr wäre nicht passiert. (Ronald Pohl, 6.4.2022)