Ein Massengrab bei Butscha von oben. Nicht in allen Fällen lässt sich belegen, dass die Toten Opfer von Kriegsverbrechen wurden. In einigen ist die Sachlage aber eindeutig.

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Die Vorwürfe sind schwer, und die Belege scheinen eindeutig: In der Kiewer Vorstadt Butscha ist es zu Kriegsverbrechen gekommen, für die Russland verantwortlich ist. Nach dem Rückzug der russischen Armee wurden dort auf den Straßen zahlreiche Leichen gefunden, einige Menschen wurden offenkundig zuvor mit gefesselten Händen erschossen. Weitere, nach ukrainischen Angaben hunderte, sind in dem nur rund 35.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Ort in Massengräbern gefunden worden. Nicht in allen Fällen sind dabei Kriegsverbrechen zu belegen – immerhin herrschten in Butscha wochenlang heftige Kämpfe. Aber in einigen ist die Sache klar. Nicht allerdings für Russland, das die Fakten in Abrede stellt.

Frage: Was behauptet Moskau denn?

Antwort: Das russische Verteidigungsministerium hat bereits am Sonntag eine Mitteilung veröffentlicht, in der Moskau jegliche Verantwortung von sich weist. Russische Truppen hätten während ihrer Anwesenheit in Butscha in großen Mengen humanitäre Hilfe verteilt. Alle Bewohnerinnen und Bewohner hätten zu jeder Zeit den Ort verlassen können – hauptsächlich "in Richtung Belarus", wie das Statement einschränkt, weil der Weg in den Rest der Ukraine wegen der Kämpfe versperrt gewesen sei. Die russische Armee habe zudem schon am 30. März Butscha verlassen. Erst Tage später – so behauptet das Ministerium – seien die Leichen entdeckt worden. "Besorgt" gibt sich Moskau zudem darüber, dass bei den Körpern keine Leichenstarre eingetreten sei. Daraus schließt man, dass sie noch nicht lange tot hätten sein können. Insinuiert wird damit, die Menschen seien erst später umgebracht worden. "Eine weitere Foto- und Videoproduktion des Kiewer Regimes", lautet der zynische Schluss.

Frage: Ist das nicht in sich widersprüchlich?

Antwort: Beide impliziten Vorwürfe – einerseits dass die Menschen in Wahrheit von ukrainischen Truppen ermordet worden seien, andererseits dass es sich um eine "Videoproduktion", also eine gestellte Szene, handle, können jedenfalls nur schwer gleichzeitig wahr sein.

Frage: Wie versucht Russland die angeblichen Fakes zu belegen?

Antwort: Über soziale Medien verbreiten Kreml-nahe User Videos, die angeblich eine Fälschung belegen. So soll eine Leiche die Hand heben, während auf einem anderen Video im Rückspiegel angeblich zu sehen sei, wie sich eine wieder aufrichtet.

Frage: Ist das so?

Antwort: BBC-Factchecker Shayan Sardarizadeh hat beide Videos überprüft. Dafür hat er sie teils in Zeitlupe ablaufen lassen, teils in Negativfarben umgewandelt. Sieht man sich die Resultate an (Achtung, hinter dem Link sind Bilder von Leichen zu sehen), scheint sehr klar, was der Grund für die angeblichen "Bewegungen" ist. In einer der beiden Aufnahmen – jener, auf der angeblich die Hand eines Toten winkt – ist in Wahrheit ein Tropfen oder eine Verunreinigung auf der Scheibe, durch die hindurch gefilmt wird, und verzerrt somit die Aufnahme. Im anderen Video wird die Rückspiegel-Abbildung einer Leiche durch die Krümmung am Rand des Spiegels gebogen. Würde man das, was man sieht, als eine Bewegung der Leiche interpretieren, müsste man erklären, wieso sich auch mehrere Objekte "bewegen", die ebenfalls im Rückspiegel zu sehen sind.

Frage: Das legt nahe, dass die beiden Videos wohl nicht gefälscht sind. Wie die Leichen dorthin gekommen sind – das muss man der Kiewer Führung und westlichen Medien aber einfach glauben?

Antwort: Nein. Die russischen Angaben, wonach die Toten nicht bereits vor dem Abzug der Armee auf der Straße gelegen seien, sind mittlerweile entkräftet. Satellitenbilder des Unternehmens Maxar, über die die "New York Times" am Dienstag berichtete, zeigen, dass sie spätestens am 21. März auf der Straße gelegen sind. Die Plattform "Bellingcat" hat darüber hinaus eine Drohnenaufnahme gefunden, auf der die Erschießung eines Radfahrers zu sehen ist (auch hier gilt die Warnung vor dem Bildmaterial). Weil auf dem Video ein Gebäude zu sehen ist, das noch steht, das auf späteren Videoaufnahmen vom 11. März aber schon schwere Schäden aufweist, muss die Aufnahme bereits vor diesem Datum gemacht worden sein.

Es sind entsetzliche Bilder, die aus Butscha um die Welt gehen. Im nur wenige Kilometer entfernten Borodjanka erscheint die Situation ähnlich verheerend
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Frage: Und der Rest der Vorwürfe?

Antwort: Die fehlende Leichenstarre würde jedenfalls auch ein langer Zeitraum zwischen Tod und Auffindung erklären: Diese löst sich nämlich einige Tage nach dem Tod wieder. Ein weiteres Indiz nennt "Economist"-Korrespondent Oliver Carroll, der – so wie mehrere andere Journalistinnen und Journalisten – vor Ort war und so auch die Behauptung widerlegen kann, dass es sich um Schauspieler gehandelt habe. Er berichtet vom "starken Leichengeruch", den die Körper verbreitet hätten. Auch das deutet darauf hin, dass die Ermordungen bereits vor dem Abzug der russischen Truppen stattgefunden haben. Darüber hinaus gibt es, wie die BBC berichtet, mittlerweile auch zahlreiche Augenzeugenberichte, die unter anderen Human Rights Watch und die aus dem lettischen Exil berichtende russische Investigativwebseite "The Insider" veröffentlicht haben.

Frage: Wie sieht es anderswo aus?

Antwort: Dazu gibt es bisher keine gesicherten Berichte, aber äußerst düstere Warnungen. Nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft ist die Situation in der Stadt Borodjanka noch schlimmer als jene in Butscha. Ominös erscheint auch eine Warnung des russischen Verteidigungsministeriums vom Dienstag, wonach ukrainische Spezialkräfte "für psychologische Kriegsführung" in einem Ort "23 Kilometer nordwestlich von Kiew" neue "gefälschte Aufnahmen" drehen würden. Die Beschreibung passt auf die Lage von Borodjanka. Allerdings, so das Ministerium, seien "ähnliche Aktionen" auch in den Städten "Sumy, Konotop und anderswo" geplant. Das legt den Verdacht nahe, dass das Ministerium hier bereits für weitere Funde vorbauen will.

Frage: War es aber nicht so, dass Russland als Grund für den "Spezialeinsatz" den Schutz der ukrainischen Bevölkerung genannt hat?

Antwort: Für Aufsehen sorgte im Zusammenhang mit möglichen weiteren Gräueln ein Meinungsbeitrag, den am Montag die staatliche russische Agentur Ria Nowosti veröffentlichte. Der Kolumnist Timofej Sergejzew argumentiert darin, dass es Zeit für die "Entukrainisierung der Ukraine" sei. Ein Großteil der Menschen in der Ukraine habe, wie sich nun zeige, das "Nazi-Regime" dort unterstützt. Daher sei ein "mindestens eine Generation andauernder" Prozess der Umerziehung nötig, etwa durch Medienzensur und neue Lehrpläne. "Hoffnungslose Nazis" sollten hingegen sofort ausgeschaltet werden. Zudem gebühre der Bevölkerung "die Strafe der unvermeidlichen Erschwernisse des Krieges". (Manuel Escher, 5.4.2022)