In Krisenzeiten zeigt sich deutlich, dass Geschlechterrollen – heute in der Forschung bevorzugt als Geschlechterverhältnisse bezeichnet – trotz aller fortschrittlichen Theorien und Bemühungen tief in der Gesellschaft verankert sind. Zuletzt konnte man auch in der Corona-Krise wieder eine Rückbesinnung auf konservative Beziehungsmodelle beobachten.

Frauen waren zum Großteil für Homeoffice, Haushalt und Homeschooling gleichzeitig zuständig, die Zahl der berufstätigen Frauen ist in den vergangenen zwei Jahren weiter gesunken, die häusliche Gewalt gestiegen. Auch weil Entlassungswellen verstärkt frauendominierte Berufsgruppen trafen, nennt UN Women die Pandemie "die Krise der Frauen".

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Feministische Bewegungen erwirkten viele Veränderungen im Sinne der Gleichberechtigung. Krisen gefährden diese Fortschritte.
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Künstliches Konstrukt

Die französische Autorin Simone de Beauvoir wird auch heute noch häufig zitiert mit ihrer These: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es." Im Umkehrschluss ist diese Aussage auch auf Männer anwendbar. Denn die Bilder, die Menschen über die Charakteristika von Geschlecht und Familie im Kopf haben, sind laut Geschlechterforschung konstruiert und einer Effizienzlogik geschuldet, die den Menschen auf ideale Weise für die Bedürfnisse des kapitalistischen Systems aufbereitet.

"Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsordnung, die sich nicht um bedürftige Wesen kümmern kann, das ist in seiner Logik nicht vorgesehen", sagt Gundula Ludwig, Leiterin der Forschungsplattform Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck und Mitherausgeberin der feministischen, politikwissenschaftlichen Zeitschrift "Femina Politica".

Ins Private gedrängt

"Deshalb wurden im Kapitalismus Geschlechterordnungen kreiert und die Sorgearbeit ausgelagert, die eigentlich dafür notwendig ist, dass sich die Gesellschaft reproduzieren kann", sagt Ludwig. Geschlechterverhältnisse bringen dem Menschen bei, wie er sich zu verhalten hat und welche Ziele er anzustreben hat. Der Mann ist in dieser heteronormativen Hegemonie der Familienernährer, er muss sich Gehorsam, Karriere- und Hierarchiedenken aneignen, im Kriegsfall hält er als Verteidiger der Staatsgrenzen her. Die Frau wird als sorgende und liebende Mutter, die fürs Emotionale und soziale Miteinander zuständig ist, ins Private gedrängt.

Ludwig beschäftigt sich seit Jahren im Feld der queer-feministischen Forschung intensiv mit Fragen zu Geschlechterverhältnissen sowie ihrer Verankerung in einem kapitalistischen, neoliberalen Staatsgefüge. Die Nachrangigkeit der Aufgaben, die den Frauen zugeschrieben werden, manifestiert sich dabei in Form von niedrigen oder gar keinen Löhnen für Care-Arbeit und benachteiligenden gesetzlichen Rahmenbedingungen, die zum Beispiel zur Altersarmut führen.

Die Konstruktion von Geschlechterverhältnissen wurde schon zum Zeitpunkt der industriellen Revolution stark an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes geknüpft, wie Ludwig auch in ihrem Buch "Geschlecht regieren" aufzeigt.

Konkrete Utopie

"Der neue Industrialismus will die Monogamie, will, dass der arbeitende Mensch seine Nervenkräfte nicht bei der krampfhaften und ungeordneten Suche nach sexueller Befriedigung verschwendet: (...) der Überschwang der Leidenschaft verträgt sich nicht mit der zeitgemessenen Bewegung der Maschinen und der menschlichen Produktionsgesten", zitiert Ludwig in ihrem Buch Antonio Gramsci.

Der Mitbegründer der italienischen kommunistischen Partei wurde in den 1920er-Jahren als Abgeordneter des Parlaments vom faschistischen Regime inhaftiert. Während der Zeit seiner Haft verschriftlichte er seine Gedanken und Überlegungen in Niederschriften, die heute als "Gefängnishefte" bekannt sind. Die feministische Theorie konstatiert seit langem, dass definierte Kategorien eines biologischen Geschlechts (engl. "sex") – also als "naturgegeben" männlich oder weiblich – und eines sozialen Geschlechts ("gender"), das historisch und kulturell gewachsen ist, einengend sind und vorrangig der Aufrechterhaltung der kapitalistischen "Ordnung" dienen.

Symptom und Ursache

Feministische Bewegungen und die LGBTQI-Community konnten im Sinne der Befreiung von diesen Geschlechterverhältnissen viele Veränderungen wie gleichgeschlechtliche Ehen, Adoptionsrechte oder die Geschlechterkategorie "divers" bewirken, aber die Hegemonie aufzulösen gelang nicht.

Wären die äußeren Symptome also unbezahlte Sorgearbeit, eine heteronormative Gesellschaftsordnung, gewaltbereite Männer oder im äußersten Fall Femizide, so wäre die Krankheit das kapitalistische System. "Man muss viel mehr – auch kognitive – Energie dafür aufwenden, noch einen Sinn in diesem heteronormativen, patriarchal-kolonialen Kapitalismus zu sehen, als dafür, konkret an seiner Überwindung zu arbeiten", sagt Ludwig. Was die Gesellschaft daran hindere, sei eine Utopie- und Hoffnungslosigkeit.

Scheinbare Sicherheit

Besonders in Krisenzeiten, wie wir sie aktuell und aufgrund der Pandemie seit einiger Zeit verstärkt erleben, würden sich Menschen an einer vermeintlichen Sicherheit festhalten, die ihnen vom Rechtspopulismus oder vom Konservativismus versprochen wird und die enorme Wirkmacht hat. "Wir halten die Unsicherheit, wohin uns diese Überwindung führen könnte, nicht aus, akzeptieren aber stattdessen sehr wohl, dass wir, wenn wir nichts ändern, auch nicht wissen, wie unser Leben in zehn Jahren aussehen wird", sagt Ludwig.

Die Frage, wie wir leben wollen, wie wir arbeiten wollen, muss für Ludwig immer über einen Rekurs auf Herrschaftsverhältnisse beantwortet werden. Denn wenn hierarchisches Denken und das Anpassen an die bestehende gesellschaftliche Ordnung nicht immer wieder reproduziert würden, so könnte das Menschsein, die Familie und das menschliche Zusammenleben neu gedacht werden.

"Feminismus will genau diese Bindung an die Herrschaftsverhältnisse aufbrechen und sagen: Dann lasst uns doch überhaupt überlegen, wie wir ganz anders leben wollen, sodass es eben nicht qua Geschlecht, qua Rassifizierung oder qua Sexualitäten Ungleichheitsverhältnisse gibt", sagt Ludwig. (Sarah Kleiner, 9.4.2022)