Zwischen Cyrano (Franz Pätzold) und Roxane (Lilith Häßle) steht eine große Nase.

Foto: Matthias Horn

"Das Recht des Dichters ist keine Kleinigkeit", sagt Cyrano und nützt es selbst bis zum Äußersten. Immerhin lebt dieser Mann mit irrsinnig großem Riechorgan im absolutistischen Paris, wo falsche Worte Karrieren beenden konnten. In Martin Crimps Neufassung des Klassikers von Edmond Rostand, Cyrano de Bergerac (1897), kommt sein Bekenntnis wie ein Rap daher: "Ich bleib Außenseiter, verzichte auf eine Leiter / in den Arsch von Kulturfunktionären – und weiter".

In diesem ganz auf eine Romanze zugespitzten Stück hallt also doch die Gegenwart wider: im politischen Durchgreifen gegen führungskritische Stimmen, und sei dieses Durchgreifen auch passiver Natur wie heute etwa in Ungarn. De Guiche, der Neffe von Kardinal Richelieu höchstselbst, bietet dem reimenden Draufgänger Cyrano süffisant an, beim "Redigieren" der Texte zur Hand zu gehen. Um die "richtige" Moral hineinzubringen!

Nämlicher De Guiche, den Markus Scheumann am Burgtheater spitzfindig mit am Rand des Quietschens nölendem Tonfall gibt, ist zugleich ein Liebeskonkurrent Cyranos. Und hier beginnt die Geschichte, die seit erfolgreichen Verfilmungen wie jener mit Gérard Depardieu anno 1990 alle kennen: Ein entstellter Mann sendet seine Liebesbriefe über das hübsche Gesicht eines anderen an die Angebetete.

Gestohlene Liebesschwüre

Die Dichtkunst dringt in Aussagebezirke vor, die nicht nur Politiker rasend machen, sondern auch Herzen kräftig anrühren können. Bei der immer dünner und langatmiger gewordenen Premiere am Dienstag im Burgtheater fabriziert ein Franz Pätzold mit (nicht sonderlich glaubwürdig) aufgeklebtem Zinken stellvertretend für den sprachlich minderbegabten Schönling Christian (Tim Werths mit ruralem Temperament) Liebesschwüre für Roxane. Und weil dieses Spektakel der Verkleidung offen daliegt, markiert Regisseurin Lily Sykes gleich von Beginn an einen vorn an die Bühnenrampe geschobenen Garderobenraum mit Schminkspiegeln und Kleiderständern (Bühne: Márton Ágh). Bis auf Pätzold wechseln die Schauspieler auch in mehrere Rollen.

Kostümfeurige Unternehmen sind Sykes' Spezialität. Mit Verve klopft sie weichgespielte Klassiker ab, 2016 Romeo und Julia am Schauspielhaus Graz, 2020 Stolz und Vorurteil im Kasino. Im Cyrano-Fall ist es eine vom britischen Autor Martin Crimp 2019 anstatt mit Alexandrinern mit mehr Hip-Hop-Rhythmik flott gemachte Neudichtung (deutsche Übersetzung: Ulrich Blumenbach und Nils Tabert). Mit Gendernachbesserungen: Der Konditor und Cyrano-Freund Ragueneau mutierte zur Zitronentartespezialistin Leila (Alexandra Henkel).

Reise zum Mond

Roxane (Lilith Häßle) tritt als junge Frau in Tüll und Tennissocken in Erscheinung, anfänglich in der Männerwahl gnadenlos auf Äußeres bedacht, lernt sie später dazu. Der flockige Beginn führt einige woke Schlagworte der Gegenwart signalhaft in den nett gereimten Textstrophen mit. Bless Amada in der Rolle des trinkfreudigen Lignière bringt es sogar zuwege, Tod auf Bankrott zu reimen. Einfacher geht da nonbinär auf legendär oder Gewese auf Académie française.

Haben diese Auftaktspäße betreffend Nase & Co qua Sprache noch Esprit versprüht (u.a. auch mit Gunther Eckes als Le Bret), so verläuft der knapp dreistündige Abend (mit Pause) bald ohne erkennbare Spur. Der Wechsel in die tragische Hälfte des Romans, an die Front der Gascogner Soldaten, gelingt dann nicht mehr. Zwar erhält die apokalyptische, dem Menschengeschlecht misstrauende Passage über den Mond viel Raum (der historische Cyrano war Autor des Science-Fiction-Romans Reise zum Mond) – sie enthält auch das den Krieg in der Ukraine aufblitzen lassende Wort Genozid. Doch ging sich dieser Bogen zwischen lustigen Pariser Bäckerinnen und verhungernden Kadetten nicht aus. Etwas hilflos hängen rot bekreuzigte Soldatentrikots quer über die Bühne auf Wäscheleinen.

Der Britin Sykes, die seit einigen Jahren vorwiegend im deutschen Sprachraum inszeniert, liegen die leichten Strecken deutlich besser, da lebt ihr Theater auf. In den tragischen Passagen stockt es. So bleibt auch der letzte Akt, fünfzehn Jahre später, ein erratisch zu Ende erzähltes bitteres Schlusskapitel. Mit dem verwundeten Cyrano hat auch die Poesie das Handtuch geworfen. Ein Menetekel. (Margarete Affenzeller, 6.4.2022)