Auch schusssichere Westen gehören zur Ausrüstung der MSF-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in der Ukraine.

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Christos Christou: "Welche Auswirkungen der Krieg auf andere Krisengebiete hat, wird man noch sehen."

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Kurz nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine hat Ärzte ohne Grenzen (MSF) Projekte geschlossen, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen. Der Kampf gegen Tuberkulose, HIV und andere Krankheiten musste vernachlässigt werden, um auf die akute Kriegsnot zu reagieren. Es ging darum, eine "völlig andere Art der Intervention" zu starten, wie der internationale MSF-Präsident Christos Christou im STANDARD-Interview erzählt.

STANDARD: Welche Art von Intervention hat MSF nach dem russischen Einmarsch gestartet?

Christou: Es ging vor allem darum, rasch zu helfen, Verletzungen und Traumata nach Beschuss und Luftangriffen zu behandeln. In vielen zivilen Krankenhäusern musste Platz für die Behandlung militärischer Verwundeter geschaffen werden. Gleichzeitig sorgten wir uns um Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes, die plötzlich keinen Zugang mehr zu ihren Medikamenten hatten. Die Ukraine hat vor dem Kriegsausbruch über ein starkes medizinisches System verfügt, mit gut ausgebildetem Personal. Doch in Sachen Kriegstraumata und bei einem sogenannten Massenfall an Verletzten waren sie nicht geschult.

STANDARD: Wie konnten die Organisation dabei helfen?

Christou: Wir schulen das medizinische Personal in Sachen Triage und wie man mit einer großen Zahl an Verletzten fertig wird. Wir liefern Medikamente und helfen bei der Versorgung von jenen, die aus irgendeinem Grund das Kriegsgebiet nicht verlassen haben – und genau wie alle anderen ein Recht auf medizinische Hilfe haben.

STANDARD: Inwiefern ähnelt der Einsatz in der Ukraine jenen in anderen Krisengebieten?

Christou: Wir beobachten ein Muster, das wir überall auf der Welt erkennen: Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit verzweifelt aus ihrem Land fliehen, viele Opfer, die sich mitten im Konflikt befinden – und es gibt nicht einmal humanitäre Routen, über die sie entkommen können. Wir sehen auch, dass die Genfer Konvention und das humanitäre Völkerrecht ignoriert werden, indem Schulen, Krankenhäuser und Wohngebiete angegriffen werden. Das haben wir in Afghanistan, dem Irak und in Syrien gesehen, und das sehen wir nun auch in der Ukraine. Dabei ist nicht nur die russische Armee dafür verantwortlich, sondern auch die USA und die Vereinigten Arabischen Emirate in anderen Kriegsgebieten.

STANDARD: Und wie unterscheidet sich der Krieg in der Ukraine von anderen?

Christou: Dieser Krieg ist auch ein Informationskrieg. Eines der Hauptopfer – neben all diesen unschuldigen Menschen – ist dabei die Wahrheit. Wir erleben einen Krieg der Falschinformation und der Propaganda. Einen Krieg, in dem man gezwungen ist, für eine Seite Partei zu ergreifen. Dieses "Entweder du bist für uns oder gegen uns" ist in diesem Krieg so brutal, dass ich fürchte, dass wir nicht genug Raum hatten, um unseren Prinzipien entsprechend zu handeln: Neutralität, Unparteilichkeit und Menschlichkeit.

STANDARD: Wie sind Sie damit umgegangen, dass die gesamte Welt hinter der Ukraine und gegen die russische Aggression steht und MSF gleichzeitig eine unparteiische Organisation ist, die alle gleich behandelt und sich auf keine Seite stellt?

Christou: Es war immer herausfordernd, egal in welchem Kontext. Aber diesmal ist es durch den Informationskrieg und die aufgeladene Situation noch schwieriger. Unser Fokus ist aber der Zugang zu den Menschen, die uns brauchen. Wir konzentrieren uns darauf, wie wir am besten zu denen gelangen, die Behandlung und Pflege benötigen. Wir sind nicht solidarisch mit Staaten oder Gruppierungen, sondern wir sind solidarisch mit den Menschen. Wir können uns nur gegen den Druck von außen wehren, Partei zu ergreifen, indem wir medizinische Versorgung anbieten – und zwar für alle. Egal ob in einer Notaufnahme oder im belagerten Mariupol: Eine Ärztin oder ein Arzt sehen nur den Patienten und wie sie ihm am besten helfen können.

STANDARD: Wie schwer ist der Zugang zum östlichen Teil der Ukraine? Gelangen Teams von MSF auch in den Donbass?

Christou: Ja, wir haben Zugang zu den Gebieten. Dieser ist mit ständigen Verhandlungen mit allen Seiten verbunden, die oft sehr herausfordernd sind. Insgesamt hilft uns, dass wir an all diesen Orten schon einmal waren und die Gemeinschaften wissen, wer wir sind und was wir machen.

STANDARD: Wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf die anderen Projekte von MSF aus? Fehlen nun Aufmerksamkeit und Finanzierungen für andere Krisengebiete?

Christou: Ich habe jede einzelne Gelegenheit genutzt, um die Menschen daran zu erinnern, dass durch diese Krise nicht alle anderen Krisen weltweit verflogen sind. Natürlich dürfen die Menschen nicht aufhören, auf die Ukraine zu schauen, aber sie sollten es mit dem Rest der Welt in Verbindung bringen. Zum Beispiel wenn es um die Aufnahme von Geflüchteten geht: Wir alle begrüßen die warmherzige Akzeptanz, die den Menschen aus der Ukraine entgegenschlägt. Ich würde diese jedoch auch gerne gegenüber allen Flüchtlingen sehen, die an Europas Tür klopfen. Noch immer ertrinken Menschen im Mittelmeer, werden von der Küstenwache nach Libyen zurückgedrängt.

Welche Auswirkung der Krieg in der Ukraine auf andere Krisengebiete hat, wird man noch sehen. Möglicherweise wird es bald ernsthafte Probleme mit der Nahrungsmittelsicherheit geben. Russland ist zudem der größte Produzent des Gelbfieber-Impfstoffs. In diesem Bereich können wir die Auswirkungen auch noch nicht abschätzen. Aber irgendwie kann man mit Sicherheit sagen, dass die Welt nicht besser aussehen wird, selbst wenn es uns gelingt, den Frieden in die Ukraine zurückzubringen. Diese Folgen werden definitiv andere Orte wie die Sahelzone in Afrika, die Krisen in Libyen und Jemen und sogar die andere Seite der Welt betreffen.

STANDARD: In den vergangenen Jahren wurde Kritik an MSF laut, wonach es Rassismus und kolonialistisches Gedankengut innerhalb der Organisation gibt. Jetzt ist mit Ihnen wieder ein weißer Mann an der Spitze der NGO. Wie soll es zu einer Veränderung kommen?

Christou: Das stimmt. Diese Diskussion gab es nicht nur bei MSF, sondern es war eine globale. Black Lives Matter hat vor zwei Jahren etwas bewegt und dazu beigetragen, dass sich diese Debatten beschleunigen. Bei MSF half es zuerst einmal, dass wir identifiziert haben, wo es institutionelle Diskriminierung gibt. Dabei mussten wir in unserer 50-jährigen Geschichte zurückgehen, um zu verstehen, warum welche Entscheidungen getroffen wurden. Wir wollen mehr Menschen aus der Region in unsere Projekte einbinden, uns nicht nur auf große Beschaffungsmärkte wie Europa verlassen, sondern auch hier regionaler werden.

Das klingt jetzt alles nach schönen Worten, wenn Sie mich als weißen Mann fragen, aber wir haben nun in einer ersten Phase vor allem aktiv zugehört. Tausende Meinungen und persönliche Erfahrungen wurden gesammelt. Nun hat MSF einen Aktionsplan entwickelt, was wir als Bewegung tun müssen. So dürfen nicht nur in Europa die wichtigen Entscheidungen getroffen werden, sondern auch in großen Büros im Globalen Süden – etwa in Nairobi. Mehr Menschen aus dem Süden müssen zudem in Führungspositionen gebracht werden.

STANDARD: Werden Sie auch das Problem der unterschiedlichen Bezahlung von internationalen und nationalen Angestellten angehen?

Christou: Die Bezahlung wird allein dadurch immer ungleich sein, weil die Lebensbedingungen in den Einsatzländern, in denen wir tätig sind, sehr ungleich sind. Wir haben uns aber sehr wohl mit der finanziellen Frage auseinandergesetzt und werden im nächsten Jahr neue Modelle vorschlagen, damit diese Kluft kleiner wird. (Bianca Blei, 8.4.2022)