Christine Strobl (50) ist seit Mai 2021 Programmdirektorin der ARD. Davor führte sie die ARD-Produktionstochter Degeto.

Foto: ARD/Laurence Chaperon

Erstaunliches Tempo beim Umbau des ARD-Programms attestieren Christine Strobl Branchendienste. Eines Programms, das neun regionale Rundfunkanstalten und Intendanten unter einen Hut bringen muss, die die ARD bilden.

Dieses Erste Deutsche Fernsehen war noch sehr stark auf das Fernsehen fokussiert, als sie im Mai 2021 antrat, vor allem im Vergleich zum öffentlich-rechtlichen, aber deutlich streamingorientierteren ZDF.

25 Streamingserien

2021 hat Strobl mit dem privaten Produktionsriesen Ufa die fünfteilige Miniserie "All You Need" über vier sehr unterschiedliche schwule Männer in die ARD-Mediathek (und ins Spätabendprogramm) gestellt. Für 2022 hat sie gleich 25 neue Serien für das Streamingportal der ARD angekündigt, Kaufserien ebenso wie Ko- und Eigenproduktionen.

Der ORF verhandelt intensiv mit privater Konkurrenz, wie der größte österreichische Medienkonzern für Streaming produzieren kann, ohne Wettbewerb(er) existenziell zu gefährden. Der neue ORF-General Roland Weißmann hofft auf eine Digitalnovelle, die ihm Streamingproduktionen und mit Blick auf jüngeres Publikum mehr Präsenz auf Social Media ermöglicht.

Strobl wurde vor der ORF-Wahl 2021 als mögliche Kandidatin für den ORF gehandelt. Strobl hatte gut in der ARD zu tun, sagte sie im vor längerem geführten Interview.

STANDARD: Können Sie sich einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk vorstellen, der nicht für Streaming produzieren darf, der seine Sendungen und Formate nur sieben Tage zum Abruf anbieten darf? Deutschland hat diese Beschränkungen inzwischen aufgehoben.

Strobl: Wir haben auch in Deutschland weiterhin einige Beschränkungen. Aber wenn man davon ausgeht, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein Angebot für alle haben soll, dann beantwortet sich Ihre Frage von selbst. Ein Großteil der Menschen unter 50 nutzt Streaming- und On-Demand-Angebote völlig selbstverständlich. Wir müssen dort sein, wo unsere Nutzerinnen und Nutzer sind. Dazu gibt es keine Alternative. Sonst würden sich jüngere Menschen irgendwann fragen, warum sie für unser Angebot einen Beitrag zahlen sollen, und wir würden auch unserem Auftrag nicht mehr gerecht werden können.

STANDARD: Die öffentlich-rechtliche ARD richtet sich – auch nach Ihren Ankündigungen – auf Streaming und streamingtaugliche Formate aus.

Strobl: Wir haben in der ARD zwei große Ziele: Das Erste Deutsche Fernsehen im klassisch-linearen Fernsehen zu stärken, an Profil zu gewinnen – und auch noch mehr Zuschauerinnen und Zuschauer. Zugleich arbeiten wir am digitalen Umbau. Wir wollen die ARD Mediathek als gemeinsame nationale Plattform der ARD-Anstalten aufbauen. Es gibt ganze Bevölkerungsgruppen, die das klassische Fernsehen gar nicht mehr einschalten. Auch diese Menschen müssen wir erreichen. Das ist unsere große Herausforderung – sonst kommen wir weder mit Information noch mit Bildung noch mit Unterhaltung an jüngere Menschen heran.

STANDARD: Kann eine ARD, ein ORF, ein ZDF, vielleicht auch ein RTL oder ProSieben mit Netflix und Amazon Prime auf Sicht mitspielen, mithalten? Da geht es um zweistellige Milliarden-Dollar-Budgets für Programm.

Strobl: Natürlich hat ein globaler Anbieter wie Netflix oder Amazon einen riesigen Konkurrenzvorteil – mit einem globalen Markt, globaler Produktion und einem unendlichen Budget. Wir müssen uns in Deutschland perspektivisch auch mit Netflix messen und können das auch. Wir haben neben dem fiktionalen Angebot in Film und Serie und in der Dokumentation ja mit der Aktualität ein absolutes Alleinstellungsmerkmal. Wir können unsere Nutzerinnen und Nutzer jederzeit auf dem Laufenden halten, wenn etwas Aktuelles in der Welt oder bei uns daheim passiert – auch wenn sie in der Mediathek eine Serie schauen.

STANDARD: Und wie steht das Match ARD gegen Netflix in Deutschland?

Strobl: Das ist schwierig zu beantworten, weil Netflix keine Zahlen veröffentlicht. Auch durch die enge Vernetzung der Mediatheken von ARD und ZDF wird das öffentlich-rechtliche Angebot noch stärker werden, und dann haben wir schon die Chance, auch mit internationalen Playern wie Netflix in Deutschland auf Augenhöhe zu sein. Wir müssen uns nicht verstecken. Die ARD setzt stark auf regionale Angebote; keiner ist hier so stark bei den Menschen vor Ort verankert wie wir. Unsere Dokumentationen und filmischen Angebote beschäftigen sich auch mit aktuellen Themen aus und über Deutschland – das unterscheidet uns deutlich vom Angebot internationaler Player. Wir müssen also auf unsere Stärken setzen – und brauchen aber ebenso hochwertige Serien und Dokus aus der ganzen Welt. Daran arbeiten wir jetzt intensiv.

STANDARD: ARD und ZDF vernetzen ihre Mediatheken mit wechselseitigen Empfehlungen und Links. Der amtierende und der nächste ORF-General haben angekündigt, sie bemühten sich um europäische Streaming-Allianzen.

Strobl: Der ORF ist ganz grundsätzlich unser natürlicher Partner. Das fängt schon bei der Sprache an und zeigt sich bei vielen Koproduktionen, bei denen wir sehr partnerschaftlich zusammenarbeiten. Wir haben viele gemeinsame Interessen. Und wir müssen auf eine noch engere europäische Zusammenarbeit setzen. In einem ersten Schritt sollten wir nun im deutschsprachigen Raum vorangehen. Das europäische Ziel muss am Ende sein, ein Gegengewicht zu den amerikanischen und auch chinesischen Anbietern zu bilden.

STANDARD: Gibt es über gemeinsame Produktionen hinaus schon Konkreteres in Sachen Streaming im deutschsprachigen Raum?

Strobl: Der ZDF-Intendant und der ARD-Vorsitzende haben diese Bereitschaft bei der Vorstellung ihrer Pläne zu einer Vernetzung der Mediatheken klar signalisiert.

STANDARD: Die ARD produziert zusammen mit Servus TV und anderen europäischen Sendern "The Net", eine Art Fußballthriller. Sind über Produktionen hinaus Allianzen, Koproduktionen, Vernetzung mit Privatsendern denkbar für Sie?

Strobl: Möglich ist eine Zusammenarbeit mit Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen, auch kommerziellen. Es gibt auch regionale Kooperationen, z. B. zwischen ARD-Anstalten und Tageszeitungen, da werden Bewegtbildinhalte zur Verfügung gestellt. Dafür sind wir offen. Ob es darüber hinaus Überlegungen für eine Öffnung des ARD/ZDF-Netzwerks für private Anbieter geben wird, kann ich nicht abschätzen. Wir treiben jetzt erst mal das gemeinsame Netzwerk zwischen ZDF und ARD voran.

STANDARD: Wegen der unterschiedlichen Finanzierung, den öffentlichen Beiträgen?

Strobl: Wir sind bewusst so aufgestellt, dass wir politisch und wirtschaftlich unabhängig arbeiten können und müssen. Das ist ein hohes Gut. Natürlich kann es in ein paar Jahren Entwicklungen geben, die dazu führen, dass wir darüber nachdenken, nationale Bündnisse auch mit privaten Anbieter gegen internationale Riesen aufzubauen. Aus meiner Sicht sollten wir aber zunächst stark auf eine Zusammenarbeit der europäischen öffentlich-rechtlichen Sender setzen.

STANDARD: Apropos Unabhängigkeit: Wie kann öffentlich-rechtlicher Rundfunk unabhängig sein, wenn zu einem wesentlichen Teil die Politik die Aufsichtsgremien bestimmt – und auch die Höhe der Gebühren/Beiträge?

Strobl: Unsere Gremien sind nicht von politischen Institutionen bestimmt, und die sogenannte Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten ist politisch unabhängig.

STANDARD: Jedenfalls seit 2014, als das Bundesverfassungsgericht bestimmt hat, dass staatliche oder staatsnahe Mitglieder nur höchstens ein Drittel der Gremien ausmachen dürfen. In Österreich gibt es das deutsche Gebot der Staatsferne ebenso wenig wie ein Limit für staatsnah besetzte Mandate im ORF-Stiftungsrat.

Strobl: Ich kann das natürlich nur für Deutschland beurteilen. Hier sind die Staatsferne und die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein hohes Gut, das wird – Sie haben es erwähnt – auch immer wieder durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Wir agieren natürlich nicht im luftleeren Raum, und die Politik als Vertretung der Gesellschaft ist auch in den Gremien der ARD präsent. Die Mehrheit in den Gremien stellen Kirchen, Verbände, die unterschiedliche Interessensgruppen aus den Bereichen Sport, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft vertreten, Gewerkschaften, Berufsverbände und viele mehr. Nach meinem Eindruck agieren unsere Gremien eigenständig. Und wie gesagt, in der Frage der auskömmlichen Finanzierung der Rundfunkanstalten ermittelt eine unabhängige Kommission die Höhe der Beiträge.

STANDARD: Aber alle Landtage müssen der Beitragshöhe dann auch noch zustimmen.

Strobl: Genau. Und hier hat ja das Bundesverfassungsgericht 2021 entschieden, dass ein Landtag allein eine Anpassung der Beiträge nicht blockieren kann.

STANDARD: Kam es in Deutschland schon einmal vor, dass ein einziger Freundeskreis – also eine politische Fraktion – eine absolute Mehrheit in einem öffentlich-rechtlichen Gremium hatte, etwa für eine Intendantenwahl? Ich frage das, weil derzeit 16, eigentlich 18 von 35 ORF-Stiftungsräten der Kanzlerpartei ÖVP zuzuordnen sind – und das war die bestimmende Mehrheit bei den Generalswahlen 2021.

Strobl: Wie sich die Mitglieder der ARD-Gremien organisieren, ist ihnen ja selbst überlassen. Nach meinem Eindruck sind die Gremien aber durchaus so selbstbewusst und eigenständig, dass eine Einflussnahme von außen schwierig sein dürfte.

STANDARD: Sie selbst haben sich 2019 nicht um die Führung der ARD-Anstalt SWR beworben, weil Ihr Mann Innenminister von Baden-Württemberg und stellvertretender Ministerpräsident ist. Darf ich naiv fragen, warum nicht?

Strobl: Zunächst einmal, weil ich sehr gerne Programm mache und nahe am Programm arbeiten will. Und zweitens: Für mich wäre es schwer vorstellbar gewesen, an der Spitze jener Landesrundfunkanstalt zu stehen, die für die Berichterstattung über die Landesregierung zuständig ist, in der mein Mann das Amt des Innenministers und des stellvertretenden Ministerpräsidenten innehat. Ich glaube zwar, dass ich das für mich persönlich schon trennen könnte. Eine solche Konstellation hätte aber eine Außenwirkung gehabt, die ich dem SWR nicht zumuten wollte. Also habe ich, als ich gefragt wurde, dankend abgesagt.

STANDARD: Das bedeutet in dem Fall, die Frau steckt zurück?

Strobl: Nein, das wäre falsch. Wenn wir davon ausgehen, dass in einer gleichberechtigen Welt Frauen und Männer Verantwortung übernehmen, wird es zu solchen Konstellationen kommen. Allerdings bin ich als Person sicher unter einer besonderen Beobachtung, und das ist auch richtig so. Speziell diese Aufgabe wäre damit nicht problemlos vereinbar, und insofern habe ich für mich diese Entscheidung getroffen. Davon unabhängig ist mir aber wichtig, dass wir politische Haltungen haben dürfen und sollen, die aber eben persönliche und private sind. Man muss deshalb wissen, dass diese Haltung im Beruf, insbesondere in den Medien, nichts zu suchen hat. Ich nehme das für mich sehr ernst. Das muss sich genauso jede Volontärin und jeder Volontär, jede Redakteurin und jeder Redakteur jeden Tag klarmachen.

STANDARD: Man könnte in Österreich umgekehrt den Eindruck bekommen, dass sich Regierungen für die Kontrolle des ORF zuständig fühlen.

Strobl: Wenn Sie den Eindruck haben, ich kann dazu nichts sagen.

STANDARD: Vielleicht ist das eine Frage unterschiedlicher Kulturen zwischen Deutschland und Österreich. Aber auch in Deutschland gab es mit Nikolaus Brender einen der CSU unbequemen ZDF-Chefredakteur, der auf CSU-Betreiben nicht verlängert wurde. Das war der Anlass für die Verfassungsbeschwerde und die Entscheidung von 2014, dass nur noch ein Drittel der Gremienmitglieder staatsnahe sein dürfen.

Strobl: Dass es auch in Deutschland politische Begehrlichkeiten gibt, würde ich nicht bestreiten.

STANDARD: Wie würde denn ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk aussehen, den man im Jahr 2022 ganz ohne Rücksicht auf bestehende Regeln und Bedingungen neu entwerfen könnte? Welche Angebote wären sinnvoll, welche Finanzierung, welche Strukturen, welche Führung? Also: der ideale öffentlich-rechtliche Rundfunk von heute?

Strobl: Wir beschäftigen uns in Deutschland intensiv mit der Frage von Auftrag und Struktur. Bisher definiert die Gesamtheit der Bundesländer unseren Auftrag – für Programme vom Ersten bis zu One und Arte. Wir selbst konnten bislang gar nicht sagen: Wir brauchen dieses oder jenes Programm gar nicht mehr als lineares Programm, sondern nur noch als Angebot in der Mediathek. Jetzt wird darüber diskutiert, ob es nicht sinnvoll ist, wenn wir selbst gestalten könnten, welche Angebote wir in welcher Form auf welcher Plattform machen. Eine entsprechende Reform des Auftrags hat deshalb die Rundfunkkommission der Länder 2021 auf den Weg gebracht.

STANDARD: Die ARD und ihre Anstalten betreiben noch eine Reihe von Rundfunkorchestern. Sind Orchester ein zeitgemäßes Angebot für Rundfunkanstalten?

Strobl: Heute muss man wahrscheinlich eher fragen: Können wir diese Orchester nicht besser in einer anderen Form als beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk erhalten? Auch deshalb hat Tom Buhrow als ARD-Vorsitzender den Vorschlag gemacht, den Auftrag an dieser Stelle noch einmal schärfer zu definieren und nachzujustieren. Dies kann ich gut nachvollziehen.

STANDARD: Das heißt jetzt aber nicht: Programmdirektorin Strobl will ARD-Orchester schließen?

Strobl: Das ist auch gar nicht meine Zuständigkeit. Aber es stellt sich schon die Frage: Muss man sie aus Beitragsmitteln finanzieren, oder müssen wir dafür nicht andere Finanzierungsformen, wie etwa Stiftungen, finden? Früher mussten die Rundfunkanbieter im Bereich der klassischen Musik selbst aktiv sein, um dann diese Musik übertragen zu können. Das ist ja heute nicht mehr so, und insofern hat das heute in diesem Sinne auch nichts mehr mit dem klassischen öffentlich-rechtlichen Kulturauftrag zu tun.

STANDARD: Sie wurden im Frühjahr 2021 da und dort als Hoffnungskandidatin für den ORF gehandelt, waren aber gerade erst Programmdirektorin der ARD geworden. Hätte Sie die Führung des ORF so gar nicht gereizt?

Strobl: Die Leitung des ORF ist sicherlich eine sehr spannende und reizvolle Aufgabe, ich arbeite immer schon gerne mit dem ORF zusammen und schätze viele Kolleginnen und Kollegen dort. Aber ich fühle mich jetzt auf absehbare Zeit sehr wohl da, wo ich bin. Und ich habe mich bewusst dafür entschieden, nah am Programm zu bleiben. Für mich ist die Aufgabe jetzt, den digitalen Wandel der ARD programmlich zu gestalten. Daran möchte ich mitwirken, und das versuche ich, mit vielen Kolleginnen und Kollegen hier hinzukriegen. (Harald Fidler, 12.4.2022)