Neben dem Wahlsystem, das er auf seine Bedürfnisse zugeschnitten hat, und weitgehend staatlich kontrollierten Medien punktet Viktor Orbán auch mit seiner Wirtschaftspolitik bei den ungarischen Wählerinnen und Wählern, erläutern die Wissenschafter Dorottya Szikra und Mitchell A. Orenstein im Gastkommentar.

Die Wahl am Sonntag brachte ihm eine vierte Amtszeit: Viktor Orbán.
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Es war zu erwarten, dass Ungarns autokratischer Ministerpräsident Viktor Orbán die Wahl für eine vierte vierjährige Amtszeit in Folge gewinnen würde. Doch das Ausmaß von Orbáns Sieg schockierte die meisten Beobachter. Der Kandidat des Parteienbündnisses "Ungarn in Einheit", Péter Márki-Zay, verlor die Wahl mit 35 zu 53 Prozent, wodurch Orbáns Fidesz-Partei eine weitere verfassungsmäßige Mehrheit im Parlament erhielt. Auch für die Europäische Union war es eine vernichtende Niederlage.

Vielleicht wird das Ergebnis die ungarische Opposition zwingen, die überwiegend wirtschaftlichen Gründe zu berücksichtigen, die so viele Ungarn für Orbán stimmen ließen. Nach dem überwältigenden Wahlsieg von Fidesz 2010 und Jahren wirtschaftlicher Not erlebten die meisten Ungarn einen Anstieg des Lebensstandards. Der wirtschaftliche Aufschwung nach 2014, der tausende neue Arbeitsplätze schuf, half Orbán zwar, doch vor allem seine Politik spielte eine große Rolle, weil sie eine klassenübergreifende Koalition für Fidesz schuf.

Ungarns liberale Opposition hat diese Politik weitgehend verhöhnt und es versäumt, eine starke Alternative anzubieten.

Beliebte Maßnahmen

Viele Presseberichte konzentrierten sich auf Orbáns Einfrieren der Gaspreise und andere große Wohltaten vor der Wahl. Als Reaktion auf die galoppierende Inflation Ende 2021 deckelte Orbán die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Zucker, Öl und Hühnerfleisch. Diese Maßnahmen, die stark an die kommunistische Ära erinnerten, waren sehr beliebt. Die Regierung verpflichtete zudem die Tankstellen, ihren Treibstoff zu Preisen unter dem Marktniveau zu verkaufen. Nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs zwang die Regierung Einzelhändler, die Kosten für die steigenden Preise zu übernehmen, andernfalls mussten sie ihr Geschäft aufgeben. Ungarn war das einzige europäische Land, in dem die Kraftstoffpreise nicht in die Höhe schossen, was Orbáns Image als starker Führer und Verfechter der einfachen Leute stärkte.

Doch Orbáns längerfristige Politik zur Verbesserung des Wohlbefindens der Wähler ist den meisten Analysten offenbar entgangen, obwohl sie für den Aufbau und die Aufrechterhaltung seiner loyalen Basis von grundlegender Bedeutung war.

Höherer Mindestlohn

Nach 1989 hat die neoliberale Übergangspolitik Ungarn, ein Land mit zehn Millionen Einwohnern, eine Million Arbeitsplätze gekostet und zu einem verheerenden Niedergang geführt. Orbáns Regierung versuchte, dies durch den Aufbau einer "arbeitsorientierten Gesellschaft" zu korrigieren, indem sie verschiedene Instrumente zur Förderung der Beschäftigung einsetzte, darunter Steueranreize für große Arbeitgeber und ein beliebtes öffentliches Arbeitsprogramm für arme Menschen in ländlichen Gebieten, das 200.000 Arbeitsplätze unter dem Mindestlohn schuf. Allen Berichten zufolge gewann das Beschäftigungsprogramm die Loyalität vieler Menschen, die sich durch den wirtschaftlichen Übergang zurückgelassen fühlten.

Ebenso wichtig ist, dass Orbáns Regierung die Kaufkraft durch steuerliche und andere Maßnahmen stärkte, sodass die meisten Ungarn, einschließlich der Geringverdiener, zu Recht das Gefühl hatten, dass es ihnen seit Mitte der 2010er-Jahre besser ging. Orbán hat den gesetzlichen Mindestlohn jedes Jahr kontinuierlich erhöht, bis er 2018 zum ersten Mal seit 1989 das Existenzminimum überstieg. In Vorbereitung auf die jüngsten Wahlen erhöhte Orbáns Regierung den Mindestlohn erneut, und zwar um 20 Prozent, wovon eine Million Beschäftigte – ein Drittel der Beschäftigten in der Privatwirtschaft – direkt profitierten, während sie gleichzeitig Druck erzeugte, die Löhne für qualifiziertere Arbeitnehmer zu erhöhen.

Großzügige, aber ungerechte Sozialleistungen

Orbán baute seine Popularität auch auf einer Familienpolitik auf, die zwar alles andere als gerecht war, aber Familien mit Kindern öffentliche Mittel in noch nie da gewesener Höhe zur Verfügung stellte. Indem er arbeitslose Eltern, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und solche, die in der Schattenwirtschaft tätig sind, ausschloss, konnte Orbán die Ressourcen seiner Regierung auf die Unterstützung arbeitender Familien im formellen Privatsektor konzentrieren.

"Familien mit drei oder mehr Kindern sind praktisch von der Einkommenssteuer befreit."

So sind beispielsweise Familien mit drei oder mehr Kindern seit 2012 praktisch von der Einkommenssteuer befreit; seit 2019 erhalten Familien hohe Zuschüsse und Darlehen für den Kauf von Autos und den Bau oder Erwerb von Häusern sowie Anfang 2022 eine vollständige Rückerstattung der Einkommenssteuer. Als die Beschäftigung nach 2014 zunahm, begannen mehr Familien davon zu profitieren. Angesichts der Bedeutung dieser familienfreundlichen Maßnahmen wählte das von der Fidesz-Regierung kontrollierte Parlament im März, auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs, die für die Umsetzung dieser Maßnahmen zuständige Ministerin Katalin Novák zur ersten weiblichen Präsidentin Ungarns.

Imaginäre Feinde

Orbán hat die Wirtschaftspolitik seiner Regierung als Teil eines Kampfes gegen verschiedene Feinde dargestellt, darunter muslimische Einwanderer und – seit 2020 – "LGBTQ+-Propaganda". Er ist ein Meister darin, die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen und sich als Retter Ungarns darzustellen, der imaginäre Feinde besiegt, die traditionelle Familie stärkt und die Geburtenrate erhöht. Mit dem Bild einer russischen Mutter und ihrer Tochter auf Plakatwänden im ganzen Land führte die Fidesz-Partei eine Kampagne zum Schutz der "ungarischen Kinder" und forderte die Wähler auf, in einem gleichzeitig mit der Wahl abgehaltenen Referendum die "homosexuelle Propaganda" abzulehnen.

Täuschen Sie sich nicht: Orbáns Wirtschaftspolitik spielt eine ebenso wichtige Rolle für seinen politischen Erfolg wie die weithin dokumentierten Verzerrungen des ungarischen Wahlsystems. Doch die Opposition war nicht in der Lage, wirksam zu reagieren. Viele Wähler setzten Márki-Zay und die hinter ihm stehenden Parteien mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik gleich, die Ungarn und andere postkommunistische Länder in den 1990er-Jahren so teuer zu stehen kam. Dieses Misstrauen nutzte die Fidesz-Partei aus.

Starker Führer

Die Ungarn sind bereit, für einen starken Führer zu stimmen, der gegen europäische Normen verstößt, wenn dies ihren wirtschaftlichen Interessen dient. Die ungarische Opposition steht vor der Herausforderung, eine Kombination aus Wirtschafts- und Sozialpolitik zu entwickeln, die eine starke Mehrheit der Wählerschaft anzieht, einschließlich der wachsenden Mittelschicht und derjenigen, die durch den wirtschaftlichen Wandel und Orbáns Politik zurückgelassen wurden. (Dorottya Szikra, Mitchell A. Orenstein, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 7.4.2022)