Edvige und ihr Ehemann Christophe genießen das Sozialleben in Montapas.

Stefan Brändle

Der Pariser Ingenieur Dominique Mocquard und seine Frau Mimi.

Stefan Brändle

Montapas liegt in der Nièvre, einem der ärmsten französischen Departements.

Stefan Brändle

Familie Puche ist aus dem regnerischen Nordfrankreich in die Nièvre gezogen.

Stefan Brändle

Dominique Mocquard hat auch Ziegen.

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Nichts stört die Ruhe in Montapas, einmal abgesehen vom Vogelgezwitscher. Buchfinken, glaubt Edvige Lagain. Die ehemalige Lehrerin aus der Großstadt kennt sich langsam aus mit der Fauna und Flora hier im westlichen Burgund. Sie, die Städterin, die in einem gesichtslosen Schlafort des Pariser Ballungsraumes Unterricht gab, begeistert sich noch ein Jahr nach ihrem Umzug an der Lebensqualität ihres neuen Wohnortes. Von ihrem Fenster aus geht der Blick über eine idyllische, sattgrüne Heckenlandschaft. Nur die Kühe stören Edvige. Ach ja? "Natürlich nicht die Kühe an sich", lacht die 47-jährige Veganerin. "Aber der Gedanke, dass sie alle mal geschlachtet werden, ist mir unerträglich."

Montapas liegt in der Nièvre, einem der ärmsten französischen Departements. Sie liegt zu hoch für den Ackerbau oder auch für den Weinbau, der dem übrigen Burgund zum Wohlstand verhilft. Bleibt die Rinderzucht.

Auch die Menschen sind bisher weggezogen: Die Nièvre leidet seit Jahrzehnten unter der Abwanderung. Von 350.000 zum Ende des 19. Jahrhunderts ist die Einwohnerzahl auf mittlerweile 200.000 gesunken. Überall in dem hügeligen Land stößt man auf verlassene Höfe mit eingefallenen Dächern.

Tristesse war gestern

Auch im Dorfzentrum von Montapas stehen viele Häuser leer, ihre Fassade blättert ab. Die Post, der einzige Laden im Ort und das Café sind geschlossen. Von einst 1.000 Einwohnern, viele in – heute geschlossenen – Kleinfabriken der Umgebung beschäftigt, sind 300 geblieben. Tristesse eines verarmten Ortes, den die moderne Zeit vergessen hat? Edvige winkt ab: "Ich habe hier mehr Freunde und ein sozialeres Leben als früher in der anonymen Pariser Banlieue", sagt die Ex-Lehrerin. "Hier helfen einem die Nachbarn, man fährt zusammen in die nächste Stadt, man trifft sich abends im Vereinslokal."

Ihr Ehemann Christophe, Typ Brummelbär, braucht keine sozialen Kontakte und fühlt sich in Montapas ebenfalls wohl. "Hier habe ich meine Ruhe. Der Pariser Stress, die Pandemie, die Gelbwesten-Krisen und jetzt sogar der Krieg – das ist hier weit weg", bemerkt der 49-jährige Verkäufer. Im April 2019 hatte er im Stadtzentrum von Paris gerade eine neue Stelle als Souvenirhändler angetreten, als die Kathedrale Notre-Dame in Flammen aufging. Sein Job war damit auch zu Ende. "Das gab mir den Rest", sagt Christophe. "Ich wollte nur noch weg von Paris."

Aufs Land ziehen

Da stieß Edvige auf eine Internetmeldung: Das Departement Nièvre offerierte umzugswilligen Städtern eine Woche Aufenthalt, damit sie vor Ort ein Haus und einen Job suchen konnten. Edvige und Christophe schrieben sich ein, ihre Kandidatur wurde aus vielen akzeptiert. Bei drei Fahrten entdeckten sie eine malerische Gegend und kleine Dörfer mit Natursteinhäusern und romanischen Kirchen. "Wir wussten sofort: Hier wollen wir leben!", erinnert sich Edvige.

Mit dem Rat der Behörden kaufte das Pariser Paar ein kleines Anwesen. Die Renovierung erweist sich allerdings als aufwendiger als vorgesehen. Für die Bauzeit logiert das Paar in der alten Post. Edvige arbeitet als freiwillige Helferin in einem Kulturverein, Christophe noch Teilzeit in Paris. Dort regelt er momentan auch die Zukunft seiner erwachsenen Kinder, die nicht aufs Land ziehen wollen.

Eine Generationenfrage? "Nein, die Covid-Krise veranlasst auch junge Familien zum Überdenken ihres Lebens", erklärt Martine Gaudin, Organisatorin der Aktion "Eine Woche bezahlter Aufenthalt" in der Nièvre. "Für viele Städter war die Veränderung nur ein Traum, jetzt setzen sie ihn um." Laut der Agentur France Stratégie zeigen sich bereits Auswirkungen auf die Immobilienpreise: In Paris und seinem Ballungsgebiet sinken sie tendenziell, in Provinzstädtchen im Umkreis von zwei bis drei Stunden Fahrzeit um die Großstädte steigen sie hingegen stark an.

Covid-Krise wirkt befreiend

In Montapas hält an diesem Frühlingstag ein Citroën auf dem leeren Dorfplatz. Eine junge Frau steigt aus und wirft Annoncen in die Briefkästen: nahe gelegene Wohnhäuser und leerstehende Bauerngüter für teilweise weniger als 100.000 Euro. "So günstig kommen Sie nirgends zu einer Bleibe, auch wenn sie renovationsbedürftig ist", meint Immobilienhändlerin Aline Rousseau gut gelaunt, obschon kurz angebunden: "Das Geschäft läuft, wir müssen die ganze Gegend abgrasen. Au revoir!"

Den Soziologen Jean Viard wundert diese Entwicklung nicht. Die Covid-Krise und ihre Überwindung wirkten auf viele Leute befreiend: "Wenn man Ihnen mitteilt, dass Sie von einem Krebs geheilt sind, sagen Sie sich, dass nun ein neues, zweites Leben beginnen muss, eines, das Sie wirklich glücklich macht."

Glücklich wirkt auch die junge Familie Puche, die aus dem regnerischen Nordfrankreich in die Nièvre gezogen ist. Mutter Audrey hatte genug von ihrem Dasein als Buchhalterin und schrieb sich für die Ferienaktion "Eine Woche in der Nièvre" ein. Das Ehepaar in den Dreißigern wohnt heute mit seinen drei Kindern im Flecken Thianges, südlich von Montapas. Alan arbeitet in einem Metallbetrieb 25 Kilometer entfernt; Audrey will zwei Nebengebäude in Gästezimmer verwandeln und vermieten. Die Kinder fahren mit dem Bus zum Schulunterricht im nächsten Dorf.

Authentische Gegend

Audrey Puche bleibt realistisch, auch wenn sie begeistert ist von ihrem neuen Leben: "Ohne Arbeit und Ersparnisse sollte man sich einen solche Schritt zweimal überlegen. Auch arbeitet man viel eigenhändig, was ein gewisses Geschick voraussetzt. Internet ist zudem unerlässlich. Und leider auch ein Auto." Dafür kann Audrey die Fahrzeit genau berechnen, wenn sie 30 Kilometer zum Spezialarzt fahren muss: "Staus sind hier unbekannt."

Auch in Lavault-de-Frétoy wendet sich der Abwärtstrend der Nièvre langsam. In dem gottvergessenen 60-Seelen-Ort hat der Pariser Ingenieur Dominique Mocquard eigenhändig zwei Ställe in großzügige "gîtes" (Unterkünfte) umgebaut. "Ich bringe 20 Leute hierher", meint er stolz, wobei er freimütig bekennt, sein Erfolg bewirke bei den Einheimischen neidische Kommentare hinter vorgehaltener Hand. Egal, sagt er: "Mein Gäste aus der Hauptstadt und zunehmend aus dem Ausland entdecken eine wenig bekannte, authentische Gegend voller Wandermöglichkeiten."

Mocquard, ein ehemaliger Verkäufer von Ladestationen für Elektrofahrzeuge, der selber jahrelang mit der Pariser Metro zur Arbeit gefahren war, vermittelt die Touristen an die umliegenden Restaurants, allesamt Geheimtipps burgundischer Küche. "Zwei Besucher waren von der Nièvre so angetan, dass sie in der Nähe selber ein Gehöft erstanden haben, um sich dort niederzulassen", erzählt der Rentner, der noch nie in seinem Leben so aktiv war wie heute. "Der Exodus verläuft nicht mehr vom Land in die Stadt, sondern umgekehrt. Hier in der Umgebung findet man schon keine Häuser mehr – die Pariser haben schon alles aufgekauft." (Stefan Brändle aus Montapas, 12.4.2022)