Kati Marton, Gründungsvorsitzende des Beirats von Action for Democracy und Buchautorin, schlägt in ihrem Gastkommentar vor, Angela Merkel aus ihrem "Ruhestand zu locken, damit sie hilft, die internationale Ordnung zu retten, für deren Erhalt sie während ihrer Zeit im Amt gekämpft hat".

Eine erschütterte Welt sucht derzeit nach Wegen, um den brutalen Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine zu beenden. Und womöglich gibt es jemanden, der zu dem gefährlich isolierten Autokraten im Kreml durchdringen könnte. Angela Merkel hat während der 16 Jahre ihrer jüngst zu Ende gegangenen Kanzlerinnenschaft dafür gesorgt, dass Putin ein gewisses Maß an gutem Verhalten wahrte, indem sie unter anderem seinen ersten Versuch zur Einnahme der Ukraine 2014 blockierte.

Soll sie im Krieg Russlands gegen die Ukraine vermitteln? Derzeit wird die ehemalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel für ihre frühere Außenpolitik auch viel kritisiert.
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Merkel hat einzigartige Fähigkeiten und kann auf eine gemeinsame Geschichte mit Putin zurückblicken, wie sie keine andere Staats- oder Regierungschefin hat. Man sollte sie aus dem Ruhestand locken, damit sie hilft, die internationale Ordnung zu retten, für deren Erhalt sie während ihrer Zeit im Amt gekämpft hat.

Klarsichtiges Verständnis

Putins und Merkels komplizierte Beziehung begann am 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer. Dieses Ereignis markierte Merkels Befreiung von dem ostdeutschen Polizeistaat, der ihr während ihrer ersten 35 Lebensjahre Grenzen gesetzt hatte. Bald darauf legte sie den weißen Kittel der Wissenschafterin ab und trat der CDU bei, um später deren Vorsitzende und erste deutsche Bundeskanzlerin zu werden.

Was Putin angeht, so beendeten der November 1989 und der anschließende Zusammenbruch des Sowjetreichs, dem er diente – und den er als "größte geopolitische Katastrophe des (20., Anm.) Jahrhunderts" bezeichnet hat –, seine Karriere als KGB-Offizier in der DDR. Merkel und Putin sind altersmäßig nur zwei Jahre auseinander und Produkte derselben Sowjetära; sie verfügen über ein klarsichtiges Verständnis des jeweils anderen. Sie sprechen – wörtlich und im übertragenen Sinn – dieselbe Sprache.

Hund ohne Leine

Nachdem Merkel Kanzlerin wurde, setzte Putin sie KGB-Techniken aus, um zu testen, aus welchem Stoff sie gemacht war. Weil er wusste, dass sie Angst vor Hunden hatte, ließ er bei einem Treffen mit ihr 2007 seinen großen schwarzen Labrador in ihrer Nähe von der Leine. Merkel zuckte nicht mit der Wimper. "Er muss das tun, um seine Männlichkeit zu zeigen", sagte sie später. "Er stellt dich den ganzen Tag auf die Probe, und wenn du dich nicht wehrst, wirst du kleiner und kleiner." In ihren vielen Interaktionen ignorierte sie seine inszenierten Wutausbrüche und sein bedrohliches Schweigen schlicht.

Obwohl Merkel schon im Ukraine-Konflikt 2014 das Gefühl hatte, dass Putin in alarmierender Weise den Bezug zur Realität verloren hatte, suchte sie weiter nach einem Zollbreit gemeinsamen Bodens. In solchen Situationen, sagte sie einmal, sei sie konzentriert wie ein Seiltänzer und denke nur an den nächsten Schritt. Putin blieb am Verhandlungstisch und stimmte schließlich zu, seinen Angriff zu beenden, nachdem Russland die Krim annektiert und Teile der östlichen Donbass-Region der Ukraine besetzt hatte. Für Merkel war ein "eingefrorener" Konflikt in jedem Fall besser als ein umfassender Krieg.

"Insoweit Putin zu Vertrauen fähig ist, vertraut er Merkel, die nicht nur keine verbleibenden politischen Ambitionen mehr hat, sondern ihn auch nie öffentlich schlechtgemacht oder den Inhalt ihrer vielen privaten Gespräche weitergegeben hat."

Ihre Methode während ihrer stundenlangen Verhandlungen bestand darin, Putin schwadronieren zu lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Wenn er dann fertig war, wiederholte sie, was er gerade gesagt hatte, in beinah kindlich einfachen Worten, was seinem Ausbruch sowohl die Dramatik als auch weitgehend den Sinn nahm.

Gestützt wurde Merkels eisige Ruhe durch ihre meisterliche Kenntnis der Einzelheiten des Schlachtfelds. "Ich glaube, ich kenne jeden Baum im Donbass", sagte sie einmal über die Kriegszone. Sie drängte Putin, sein Ziel präzise zu formulieren, und bot dann einige Schritte an, um ihn dorthin zu bringen. Wissenschaftlich ausgebildet und frei von Ego, Ideologie und Emotionen, brach sie seine grandiosen Pläne auf deren kleinsten, überschaubarsten Teile herunter. "Was zählt, ist Lösungen zu finden", sagte sie oft.

Insoweit Putin zu Vertrauen fähig ist, vertraut er Merkel, die nicht nur keine verbleibenden politischen Ambitionen mehr hat, sondern ihn auch nie öffentlich schlechtgemacht oder den Inhalt ihrer vielen privaten Gespräche weitergegeben hat. Es ist bekannt, dass Merkel die russische Kultur bewundert, und sie hat Russland nie als "Regionalmacht" bezeichnet, wie es der frühere US-Präsident Barack Obama getan hat. Zwei Monate nach ihrem Ausscheiden aus dem Kanzleramt begann Putin jenen umfassenden Krieg, den Merkel 2014 verhindert hatte. Nun, da sie weg war, ihr Nachfolger Olaf Scholz (SPD) sich noch nicht bewährt hatte und die USA dank des früheren Präsidenten Donald Trump erbittert polarisiert waren, kalkulierte Putin vermutlich, er könne die "Katastrophe", die 1989 begonnen hatte, endlich rückgängig machen.

Isolierte Lage

Aber auch Merkel hatte sich verrechnet. Obwohl eine vorsichtige Politikerin, ließ sie es zu, dass deutsche Wirtschaftsinteressen sich durchsetzten, und versäumte es, die (inzwischen eingestellte) Pipeline Nord Stream 2 aufzuhalten, die Erdgas über die Ostsee direkt von Russland nach Deutschland transportiert hätte. Auch erhöhte sie Deutschlands Verteidigungshaushalt nicht ausreichend, um einer wachsenden Sicherheitsbedrohung zu begegnen. Merkel verabscheut Krieg und betrachtet den Rückgriff darauf als Komplettversagen der Staatskunst. Doch angesichts des nun die Ukraine verheerenden Krieges wurden Europa und der Westen abrupt in die Post-Merkel-Ära gestürzt, ohne dass ein klares Ende absehbar wäre.

Putin nimmt Merkel ernst und muss angesichts seiner isolierten Lage auf irgendeiner Ebene erkennen, dass er Hilfe braucht, von seinem gefährlich hohen Baum herunterzukommen, ohne jenen totalen Gesichtsverlust zu erleiden, den er fürchtet und um den zu vermeiden er zu weiterem Blutvergießen bereit ist. Merkel, die ihn besser kennt als jede andere führende Politikerin auf der Welt, könnte Putin dabei helfen.

Die Erfolgschancen sind natürlich gering, doch die Weltordnung, deren standhafteste Verteidigerin Merkel war, steht auf der Kippe. Es geht um ausreichend viel, um das Risiko einzugehen. (Kati Marton, Übersetzung: Jan Neumann, Copyright: Project Syndicate, 8.4.2022)