Der Journalist und Autor Misha Glenny fokussiert sich künftig auf die Leitung des IWM.
Foto: Klaus Ranger/IWM

Es ist eine bemerkenswerte berufliche Umorientierung, die Misha Glenny vor sich hat: Erstmals wird mit dem 63-jährigen Briten ein hauptberuflicher Journalist Rektor am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Das postgraduale Forschungszentrum, das 1982 vom polnischen Philosophen Krzysztof Michalski vor allem für den intellektuellen Austausch zwischen Ost und West gegründet worden war, feiert heuer sein 40-jähriges Bestehen.

Bekannt wurde Glenny unter anderem mit seinem Sachbuchbestseller "McMafia. Die grenzenlose Welt des organisierten Verbrechens", der als Inspiration zur gleichnamigen preisgekrönten BBC-Fernsehserie diente (hierzulande auf Amazon Prime zu sehen).

Der akademischen Welt ist Glenny freilich nicht fremd. Er studierte in Bristol und Prag Theaterwissenschaften und Deutsch, währenddessen orientierte er sich stärker in Richtung Wirtschafts- und Politikwissenschaften. Als Lektor lehrte er unter anderem an der London School of Economics und arbeitete an einem Masterstudiengang des University College London mit. Zuletzt leitete er als Gastprofessor an der New Yorker Columbia University einen Kurs zu Kriminalität, Korruption und wirtschaftlichem Wandel.

Ein Korrespondent bei der Mafia

Der Sohn eines renommierten Slawisten – deshalb auch der Vorname Misha, der ursprünglich Michael lautete – war bisher aber vor allem als Journalist für die BBC tätig und wurde für seine Arbeiten vielfach ausgezeichnet. Zu Beginn der 1990er-Jahre galt seine Aufmerksamkeit vor allem den Balkankriegen, über die er damals auch aus Wien für die britische Tageszeitung "The Guardian" sowie für die BBC als Korrespondent für Zentral- und Osteuropa berichtete. Über die Balkankriege und die Geschichte der Region verfasste er seine ersten Bücher, und hier liegt auch ein Schwerpunkt seines geopolitischen Fachwissens. Auch fern der Universitäten arbeitete er immer eng mit Forschenden zusammen und veröffentlichte regelmäßig in Fachjournalen.

Mit der Zeit rückte das Themenfeld internationales organisiertes Verbrechen stärker in seinen Fokus. Im 2008 erschienenen Buch "McMafia", aber auch in späteren Arbeiten zeichnete er globale kriminelle Verstrickungen nach. Anschaulich stellte er mafiöse Strukturen dar, die ähnlich wie bei Franchise-Unternehmen verlaufen können: Es geht um eine nach außen getragene machtvolle Identität, die effektive Drohungen ermöglicht – aber auch darum, innerhalb des Systems aufzupassen, dass niemand die eigenen Regeln bricht.

Vom Drogenhandel zur Cybersicherheit

Seine intensiven Recherchen führten zu potenziell lebensgefährlichen Treffen mit Figuren der Unterwelt, von Russland bis Kolumbien. Die Verantwortlichen werden aber durchaus in ihrer Menschlichkeit gezeigt. In seinem zuletzt publizierten Sachbuch "Der König der Favelas" schrieb Glenny über den brasilianischen Drogenboss Nem, den der Autor im Gefängnis besuchte; auch hier ist eine Verfilmung in Arbeit. Nem – kurz für "Nemesis" – galt als Staatsfeind Nummer eins und unterstützte in den Slums von Rio rund 1.000 bedürftige Menschen durch das Geld, das er im Kokainhandel erwirtschaftet hatte. Der Journalist war im Übrigen auch informeller Berater der britischen und US-amerikanischen Regierungen.

TED

Glenny ist aber nicht nur Buchautor. Er vermittelt seine Recherchen auch in von ihm produzierten Fernseh- und Radioserien für die BBC. 2019 präsentierte er einen Podcast über Wladimir Putin. Zudem gehört Glenny zu den Vortragenden der TED Talks. Er sprach etwa über Drogenkartelle und Menschenhandel, die mit dem gesamten Netzwerk organisierter Kriminalität zu 15 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts beitragen. Bei der Globalisierung des Verbrechens kommt er thematisch auch an Cyberkriminalität und dem digitalen Schwarzmarkt nicht vorbei, wo er ebenfalls Expertise entwickelte. Unter anderem traf er sich mit verhafteten Hackern, die auch im Bereich der öffentlichen oder privaten Cybersicherheit glänzende Karrieren hingelegt hätten. Nicht zuletzt referierte Glenny, der fließend mehrere Fremdsprachen spricht, auch darüber, wie man noch in der fünften Lebensdekade eine neue Sprache lernen kann.

Rektorenfolge am IWM

Am geistes- und sozialwissenschaftlich geprägten IWM gastierte er bereits 2019 als Visiting Fellow. Nun kehrt der dreifache Vater, der in zweiter Ehe mit der britischen Journalistin Kirsty Lang verheiratet ist, ein weiteres Mal nach Wien zurück. "Ich freue mich enorm darüber, nach Wien zurückzukehren, wo ich auch meine Karriere begonnen habe", sagt Glenny, der in den 80er-Jahren vor seiner Korrespondentenstelle ein Doktorat über das politische System der DDR in Betracht gezogen hatte.

Als dritter Rektor der postgradualen Forschungseinrichtung tritt Glenny in die Fußstapfen zweier öffentlicher Intellektueller. Auf Michalski, der das IWM bis zu seinem Tod 2013 leitete, folgte die Sozialanthropologin Shalini Randeria, die im Vorjahr als Rektorin an die Central European University (CEU) wechselte. Mit Glenny, der seine neue Aufgabe im Mai antreten wird, kommt nun abermals ein globaler öffentlicher Intellektueller nach – aber einer, der weniger aus der akademischen denn aus der Medienwelt kommt. Eines seiner Ziele ist es, das Institut auch in Großbritannien, den USA und weltweit als Einrichtung mit Expertise bekannter zu machen.

Randeria sorgte bereits für eine stärkere globale Orientierung des IWM und baute den Austausch zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit weiter aus. Das Institut kooperierte von Beginn an eng mit Medien – im Besonderen mit dem STANDARD. Diese öffentliche Ausrichtung dürfte der neue Rektor weiter festigen: "Nach dem Brexit, der mich politisch und emotional sehr mitgenommen hat, ist es mir wichtig, zur Debatte beizutragen, wie sich die Europäische Union angesichts immenser globaler Herausforderungen stärken lässt", sagt Glenny. "Und das Ringen um die Seele der EU spielt sich auch maßgeblich in Zentraleuropa ab." (Julia Sica, 8.4.2022)