Einfach war er noch nie, der Interessenabgleich zwischen den 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. All die Länder mit ihrer unterschiedlichen Größe, Lage, Geschichte und Wirtschaftskraft unter einen Hut zu bekommen – das ist das europäische Einigungswerk, das Tag für Tag mühsam vorangebracht und oft genug neu erfunden werden muss. Und doch ist es die Mühe wert. Stabilität in Europa beruht eben nicht auf Harmonie, und schon gar nicht auf der Abgrenzung gegen einen äußeren Feind, sondern auf der gemeinsamen Abgrenzung gegenüber der eigenen kriegerischen Vergangenheit.

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Die Leistung der EU besteht darin, in bewährten Institutionen rasch für maximale Koordination zu sorgen – und die Hilfe für die Ukraine nicht aus den Augen zu verlieren.
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Mag sein, dass die EU auch deshalb mit Krieg schlecht umgehen kann. Die Reaktionen auf den russischen Angriff auf die Ukraine lassen jedenfalls großen Interpretationsspielraum. Da gibt es einerseits das oft formulierte Lob für die einhellige Verurteilung des Krieges, für die bisherigen, rasch beschlossenen Wirtschaftssanktionen oder für die gemeinsamen Anstrengungen zur Aufnahme Vertriebener. Gleichzeitig aber mehrt sich auch die Kritik am unterschiedlichen Vorgehen der Mitgliedsländer in vielen Bereichen.

Beides hat seine Richtigkeit. Die EU hat tatsächlich schnell reagiert und eine Einigkeit an den Tag gelegt, mit der man im Kreml wohl nicht gerechnet hat. Und ja, man kann gleichzeitig kritisieren, dass manche Staaten zu zögerlich auftreten, etwa bei der Ausweisung russischer Diplomaten oder bei der Bereitschaft, die Ukraine mit mehr und moderneren Waffen zu beliefern. Unterschiedliche Interessen mit Blick auf ein mögliches Öl- oder Gasembargo sind ein weiteres Beispiel.

Die Leistung der EU ist es, in bewährten Institutionen rasch für maximale Koordination zu sorgen – und dabei das große gemeinsame Interesse, Hilfe für die Ukraine, nicht aus den Augen zu verlieren. Wer sich aber nach den Wahlen in Ungarn genau darum gesorgt hat, könnte nun recht behalten. Im Siegestaumel legt sich die Regierung von Viktor Orbán, der für seine Nähe zu Kreml-Chef Wladimir Putin bekannt ist und russisches Gas, wie von diesem verlangt, in Rubel bezahlen will, gerade mit Kiew an: Nach Kritik von dort lud Außenminister Péter Szijjártó prompt die ukrainische Botschafterin vor: Bei den Ukrainern stehe "das Interesse der ukrainischen Menschen an erster Stelle, bei uns das der Ungarn", ließ er wissen.

Die Interessenlagen in Europa, sie sind in der Tat kompliziert. Ausschließlich national motiviert sollten sie im Angesicht von Tod und Zerstörung aber sicher nicht sein. (Gerald Schubert, 7.4.2022)