In deutschen Talkshows und Nachrichtensendungen ist derzeit ein neues Ritual zu beobachten: Politiker, die in den letzten Jahren auf der Bundesebene an der Macht waren, müssen erklären, wie sie sich so sehr bezüglich Russlands und Wladimir Putins irren konnten und warum sie die vielen ostmitteleuropäischen Warnungen vor Nord Stream 2 und russischer Aufrüstung ignoriert haben. Frank-Walter Steinmeier, ehemaliger Außen- und Kanzleramtsminister und nun zum zweiten Mal Bundespräsident, hat den Anfang gemacht und Fehler eingestanden, andere, wie Angela Merkel und ihr Vorgänger Gerhard Schröder, schweigen beharrlich und verweigern sich dem Ritual. Kommentatoren, Intellektuelle und Journalisten fragen sich verwundert, wie es zu diesem außenpolitischen Totalversagen kommen konnte. Warum hat sich Deutschland allen Warnungen zum Trotz von russischen Rohstoffen abhängig gemacht, warum haben Politiker jahrzehntelang die Zeichen an der Wand ignoriert? Das sind berechtigte Fragen, aber sie lenken die Aufmerksamkeit nur auf die Mächtigen in Berlin. Dabei sind die Fragesteller, die Journalisten selbst, die Medien, Teil des Problems.

In Berlin wurde über Nacht das Sowjetische Ehrenmal an der Straße des 17. Juni in eine Ukraine-Flagge gehüllt.
Foto: APA/dpa/Kay Nietfeld

In Berlin entsteht ein Biotop

In den vergangenen dreißig Jahren ist im wiedervereinigten Deutschland ein Biotop aus Parteipolitik, Wirtschaftsinteressen, Außenpolitik und Lobbyismus entstanden, in dem sich eine rosarote Sicht auf Russland und dessen politischen Eliten verbreiten konnte, die blind gemacht hat für die nackten Tatsachen: dass Russland eine nach innen und außen aggressive Diktatur geworden ist, die ihre Gegner vergiftet und ihre Nachbarn überfällt. Dieses Biotop konnte entstehen, weil jede Regierung der vergangenen Jahrzehnte die Interessen einiger weniger im Russland-Geschäft verwurzelter deutscher Konzerne mit der Staatsräson verwechselte. In Wahrheit ist Russland für die deutsche Wirtschaft als Ganzes nahezu bedeutungslos. Deutschland handelt doppelt so viel mit den Niederlanden wie mit Russland und investiert an der Weichsel mehr als an der Wolga. Würden wirtschaftliche Rücksichten die deutsche Außenpolitik bestimmen, müsste sie proamerikanisch, profranzösisch und prochinesisch sein, denn in diese Staaten exportiert die deutsche Wirtschaft am meisten.

Dass die deutsche Außenpolitik so russlandfreundlich wurde, liegt an einem Heer von Lobbyisten, das damit beschäftigt war, jedem Bundeskanzler einzuflüstern, der Import billiger Rohstoffe aus Russland sei im Interesse aller Deutscher. Seit dem 24. Februar sind Frösche in diesem Lobby-Biotop auf Tauchstation gegangen, aber sie quaken immer noch. Fast täglich kann man im deutschen Fernsehen Vertreter dieser Lobby dabei beobachten, wie sie unwidersprochen Katastrophenszenarien für den Fall an die Wand malen, dass Gaslieferungen aus Russland von einem Tag auf den anderen abgestellt würden. Der Vertreter eines Mineralölkonzerns, der bei einer Erhöhung der Treibstoffpreise vor zusammenbrechenden Lieferketten, Massenarbeitslosigkeit, und dem Ruin ganzer Branchen warnt, würde in Sekundenschnelle von jedem Moderator entlarvt werden. Nur bei Lobbyisten, die Rohstoffimporte aus Russland verteidigen, versagen weiterhin alle Kontrollmechanismen der pluralistischen Medienlandschaft. Hier liegt der Hund begraben, nicht bei Merkel, Steinmeier und Schröder. Denn sie alle konnten sich nur deshalb so frei und unbekümmert in diesem Biotop bewegen, weil es dafür eine gesellschaftliche Akzeptanz gab. Die baufälligen Brücken zwischen Europa und Russland, die Frank-Walter Steinmeier laut seinem Eingeständnis gebaut hat, wurden ja nicht heimlich errichtet, sie waren weder illegal, noch wurden sie als unanständig empfunden. Es gab Rechtfertigungen dafür, die die breite Öffentlichkeit hinnahm. Das liegt daran, dass Russland im deutschen Weltbild einen sehr eigenartigen Platz hat. Im Gegensatz zur Ukraine. Ein Blick in die jüngste Vergangenheit zeigt das.

Es ist der Frühling 2014. Berlin. Auf der Halbinsel Krim besetzen Soldaten unbekannter Herkunft, ohne Abzeichen auf den Uniformen, das Parlamentsgebäude. Referendum, Antrag auf Aufnahme in die Russische Föderation. In Lugansk und Donezk greifen Bewaffnete ukrainische Polizeiposten an, Busse mit russischen Zulassungen befördern "Touristen" aus Russland in die ukrainischen Regionen, um sie dort gegen den Regierungswechsel in Kiew protestieren zu lassen. Der ist nach russischer Lesart ein faschistischer Putsch. In Moskau feiern die Massen die "Heimkehr" der Krim zu Russland.

Frühling in Berlin

Derweil herrscht in den Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland vollkommene Ausgewogenheit: Es gibt Diskutanten, die die russische Sichtweise vertreten, und solche, die das nicht tun. Mit Letzteren gibt es ein Problem. In der deutschen Medienlandschaft gibt es Russlandversteher, die etwas von Russland verstehen, und solche, die zu Russland nur eine Meinung haben. Ukraineversteher gibt es in den Medien so gut wie gar nicht. Die forschen an den Universitäten, aber die Journalisten kennen sie nicht und laden sie nicht ein. Russlandversteher sind seit Jahren in den Medien präsent, manche treten sogar dann noch als unabhängige Experten auf, als sie bereits bei Gazprom unter Vertrag sind. Dann vertreten sie das Recht Russlands auf eine eigene Einflusszone und die Wahrung seiner Sicherheitsinteressen oder verkünden, die Krim sei ja eigentlich schon immer russisch gewesen. Sie rufen zur Mäßigung auf, nicht weil sie Angst vor Russland oder vor Krieg haben, sondern weil sie einfach bei Putin keine Radikalisierung erkennen können.

Geht es um Sanktionen, verweisen sie auf Deutschlands moralische und historische Verpflichtungen gegenüber Russland aufgrund der "Ungeheuerlichkeit der Verbrechen", die die Nazis dort begangen haben. Es ist eine Mischung aus geopolitischen und moralischen Argumenten, die völlig von der inneren Lage in Russland abstrahiert. In diesem kruden Weltbild ist Russland gleichzeitig eine Demokratie und die Fortsetzung der UdSSR mit anderen Mitteln.

Fridays-for-Future-Demo gegen Putin und seinen Aggressionskrieg gegen die Ukraine in Berlin.
Foto: IMAGO/Bernd Friedel

Für die Ukraine ist darin kein Platz. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt zweifelt sogar in einer Talkshow, ob die Ukraine überhaupt ein richtiger Staat ist. Auf jeden Fall ist sie nicht das Opfer eines Angriffskriegs, sondern sie ist eine von zwei Konfliktparteien und ein Land, das "tief zerrissen ist in einen prorussischen Osten und einen proeuropäischen Westen". Das ist ein Klischee der russischen Propaganda: Prorussischer Separatismus im Donbass und auf der Krim erscheint da als genauso legitim und natürlich wie katalanischer Separatismus in Spanien oder das Streben der Flamen nach Unabhängigkeit von Belgien.

Das Problem ist nur, dass dieser prorussische Separatismus, der mit Maschinengewehren im Anschlag Polizeistationen stürmt, von Russland erst geschaffen wurde. Im Lichte unabhängiger Umfragen aus der Ukraine von vor 2014 war politischer Separatismus zwar etwas stärker im Donbass als in den Nachbarregionen, aber er war eine Minderheitsströmung, und vor allem: Er war friedlich. Er beruhte auf der Sehnsucht ostukrainischer Rentner nach der untergegangenen Sowjetunion. So wie die Talkshow-Gäste in Berlin assoziieren auch sie Russland mit der UdSSR. Manche nehmen die russischen Pässe an, die die russische Regierung verteilen lässt. Aber Rentner überfallen keine Polizeiwachen. Jüngere Bewohner des Donbass denken nicht daran, russische Staatsbürger zu werden, sonst droht ihnen bei der nächsten Reise nach Russland der Einzug in die Armee, die in Tschetschenien und später dann auch in Syrien Krieg führt. Genau deshalb musste der Kreml bewaffnete Aufständische in den Donbass schicken: weil es dort keine politische Unterstützung für ein Los von Kiew gab. Viele Mitglieder der neuen Machteliten im Donbass haben russische Pässe und haben zuvor bereits in den von Russland abgespaltenen georgischen Gebieten ähnliche Operationen durchgeführt. Sie sind Abenteurer, Fremdenlegionäre, Geheimdienstler und gewöhnliche Banditen. Ihre Herrschaft beruht auf Terror und darauf, dass ihre Gegner in der Bevölkerung ins Zentrum und den Westen der Ukraine fliehen. Bei Kriegsausbruch 2022 hatte die Ukraine nach UNHCR-Angaben 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Nach Russland waren gerade einmal 50.000 geflohen. Konfrontiert mit der "Befreiung vom ukrainischen Joch" haben es 30-mal so viele Ukrainer aus dem Donbass und der Krim vorgezogen, dorthin zu gehen, wo sie angeblich diskriminiert wurden. Selbst auf der Krim, wo Separatismus in den Neunzigerjahren einen authentischen Nährboden hatte, beteiligen sich an dem Referendum von 2014 nur 30 Prozent der Wahlberechtigten, von denen die Hälfte für den Anschluss an Russland stimmte. Man weiß das durch eine Ungeschicklichkeit von Putins Menschenrechtskomitee, das diese Daten kurzzeitig auf seiner Webseite veröffentlichte.

Falsches Klischee

In Deutschland ersetzt das Klischee von der "tiefgespaltenen Ukraine" echte Kenntnisse über das Land. Deutsche Diplomaten ziehen los, sponsern und organisieren im Osten der Ukraine "Versöhnungskonferenzen", bei denen sich lokale Behördenvertreter und NGO-Vertreter mit der Zentralregierung in Kiew "versöhnen" sollen. Die Konferenzen enden mit einem Fiasko, als deutlich wird, dass diese Menschen überhaupt nicht zerstritten sind. Von Russland weiß man, dass dort Putin die einst mächtigen Oligarchen aus der Jelzin-Zeit entmachtet hat. Man weiß, mit wem man da reden muss. In der Ukraine reden deutsche Politiker mit ihren Kollegen aus der Werchowna Rada, bis sie merken, dass hinter jeder Partei, fast jedem Thinktank und den meisten Rada-Fraktionen ein Oligarch steht, der die Fäden zieht. Es ist die Macht der Oligarchen, die in der Ukraine die Macht der Exekutive begrenzt und für Pluralismus in den Medien und der Kultur sorgt. Viel komplizierter als in Russland. Zu kompliziert für deutsche Außenpolitiker.

Hinter diesem absurden Export deutscher Soft Power verbirgt sich ein ernstes Problem: In Deutschland weiß jeder etwas über Russland und hat eine Meinung über Russland. Das Wissen ist oft ein wildes Durcheinander von Doku-Soaps, Romanen, Versatzstücken aus Filmen, Reiseführern, historischem Kitsch, durchtränkt von Respekt vor dem "ewigen Russland" und Furcht vor der Sowjetmacht, mit der Putins Russland gleichgesetzt wird. Es ist Kitsch, es ist Halbwissen, aber man kann darauf aufbauen. Russlandversteher wissen, wie man es aktiviert, die russische Propaganda kann daran anknüpfen, selbst Journalisten, die der russischen Politik gegenüber kritisch eingestellt sind, bedienen sich dieser Versatzstücke. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erfährt man in den Hauptnachrichten von der Verfolgung von Dissidenten, der Vergiftung von Skripal und Nawalny, der Ermordung Nemzows und der Flucht seiner Tochter, und anschließend kann man auf einem Themenkanal eine Wolga-Reise machen, während ein entzückter Moderator von der Tiefe der russischen Seele schwadroniert und die Rückständigkeit der russischen Provinz mit der Naturverbundenheit und Ursprünglichkeit ihrer Bewohner erklärt.

In Deutschland weiß jeder etwas über Russland. Über die Ukraine weiß kein Mensch etwas. Nicht einmal Kitsch. Keine Dnjepr- oder Dnister-Fahrten, in denen die Weite der ukrainischen Steppen angepriesen wird, die Seele ukrainischer Bauern ist nicht "tief" und ihr Staat mag älter sein als der russische, aber er gebietet keinen Respekt, und ewig ist er in deutschen Augen schon gar nicht. Wenn irgendwo in der deutschen Provinz ein Kosaken-Chor auftritt, ist er natürlich russisch und vom Don. Von ukrainischen Kosaken, von der Sitsch, von der Kiewer Rus hat man in Deutschland noch nichts gehört.

In Österreich ist man noch eher geneigt, die Ukraine durch die Brille Galiziens zu betrachten; wer sich für die Habsburgermonarchie interessiert, der weiß auch etwas über ihre Kronländer. In Polen projiziert man die Geschichte der Adelsrepublik und der Zwischenkriegszeit auf die Ukraine und vergisst gerne den Donbass, Odessa und die Krim. Das ergibt ein Zerrbild, aber es bietet Anknüpfungspunkte. Nicht so in Deutschland. Wer dort nach der Ukraine fragt, hört nur ein Wort: Tschernobyl. Auf der mentalen Landkarte der Deutschen ist Russland riesig. Die Ukraine ist ein weißer Fleck.

Keine diplomatische Lösung?

Es gibt ein Element, das alle deutschen Parteien eint, so sehr, dass sogar die AfD darauf verzichtet, in dieser Hinsicht ihrem Lieblingsfeindbild Angela Merkel zu widersprechen: die gebetsmühlenartige Wiederholung der Floskel, für den "Ukraine-Konflikt" gebe es nur eine diplomatische, keinesfalls aber eine militärische Lösung. Was klingt wie ein Bekenntnis zu einer friedliebenden Außenpolitik, ist eine leere Floskel. Denn während Russland die Krim annektiert, schickt die Regierung Merkel Waffen aus Bundeswehrbeständen und Bundeswehroffiziere als Ausbilder in die Kurdengebiete des Irak, um dort einen Völkermord des "Islamischen Staates" an den Jesiden zu verhindern. Auch in Afghanistan hält man zwanzig Jahre lang eine militärische Lösung für machbar. Niemand hat gefordert, im libyschen Bürgerkrieg mit Muammar al-Gaddafi "im Gespräch zu bleiben", und 1999 hat die Bundeswehr in Jugoslawien der Diplomatie auch keine Chance mehr gegeben. Der Krieg, der 2014 zwischen der Ukraine und Russland ausgebrochen ist, war auch damals schon ein Angriffskrieg. Er wird zum bilateralen Konflikt umbenannt, damit Deutschland vermitteln kann.

Man kann es nachlesen

Das alles ist bekannt. Man kann es nachlesen, man kann es recherchieren. Jeder, der es wissen wollte, konnte es wissen. Niemand kann sagen, das sei eine Politik, die hinter verschlossenen Türen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit gemacht wurde oder der deutschen Öffentlichkeit von einer abgehobenen Elite aufgezwungen wurde. Damit können sich von ihrer Polizei und ihren Geheimdiensten terrorisierte Russen herausreden. In Deutschland ist das kein Argument. Laut Umfragen aus dem Jahr 2014 hielt die Hälfte der Befragten die damaligen Medienberichte über Russlands Angriff auf die Ukraine für voreingenommen und verfälscht. Zeitweise hatten die Deutschen mehr Vertrauen in Russland als in die USA. Wir können getrost davon ausgehen, dass die Bundesregierung davon wusste, Angela Merkel ließ im Durchschnitt dreimal wöchentlich Meinungsumfragen durchführen. Ihre Schaukelpolitik von damals, der Versuch, gleichzeitig Russland zu sanktionieren und den ehrlichen Makler zwischen Kiew und Moskau zu spielen, entsprach ziemlich genau dem, was Otto Normalverbraucher auch tat: eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen, um keine unbequemen Schlussfolgerungen ziehen zu müssen.

Klaus Bachmann, deutscher Journalist und Historiker, ist Professor für Sozialwissenschaften an der SWPS-Universität (Warschau).
Foto: privat

In den Augen der Deutschen war die Ukraine damals weit weg, ein fremdes Land irgendwo östlich von Polen und westlich von Kasachstan, instabil, korrupt, das sich auf einen aussichtslosen Streit mit einer Atommacht eingelassen hatte. Das wenigstens ist jetzt vorbei. Als der Krieg ausbrach, wurde er im deutschen Fernsehen sofort zum "russischen Angriffskrieg". Auch Ukrainer kommen jetzt vor die Kameras, Präsident Wolodymyr Selenskyj, sein Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, und natürlich die Flüchtlinge.

Während Ukrainer im polnischen, litauischen oder US-Fernsehen vor allem als heldenhafte Kämpfer gegen russische Invasoren vorkommen, zeigen die Kameras der großen deutschen Fernsehanstalten vor allem ausgebombte Zivilisten, weinende Frauen in Berlin und verzweifelte Flüchtlinge an der polnischen und moldauischen Grenze.

Mit atemberaubender Geschwindigkeit hat sich der jahrzehntelange Russland-Kitsch in einen paternalistischen Ukraine-Kitsch verwandelt. Immerhin, es gibt auch Positives zu vermelden. Der Krieg, den Russland seit 2014 gegen die Ukraine führte, fand immer im Osten statt. Meist war das der Osten der Ukraine, also gewissermaßen der Osten des Ostens. Der Krieg, der am 24. Februar ausbrach, wurde fast umgehend zum "Krieg in der Mitte Europas" umbenannt.

So ist die Ukraine dann doch noch irgendwo in Europa angekommen, in dem gemeinsamen europäischen Haus, das Putin gerade in Trümmer legt. (Klaus Bachmann, 9.4.2022)