"Herr Kühnert, bitte!" Ich greife nach meiner Tasche. Während ich mich aus dem Stuhl im Wartezimmer meiner Hautärztin erhebe, spüre ich die Blicke der Anwesenden. Ich fühle mich wie ein Alien, wie eine andere Spezies. Dabei möchte ich doch einfach nur zu meiner Routineuntersuchung. Routine: nichts Außergewöhnliches. Nichts, was im Leben eines Menschen Schweißausbrüche hervorrufen und Überwindung kosten sollte. Aber alltägliche Situationen verlangen mir manchmal viel ab. Das kann ein einfaches Hallo in der Sportumkleide sein. Denn sobald meine tiefe Stimme zu hören ist, könnte anderen Menschen die Illusion genommen werden, dass ich eine cis Frau bin. Also eine Frau, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde. Denn das bin ich nicht. Ich bin eine trans Frau. Das versuche ich nicht rund um die Uhr zu verstecken, aber manchmal schon. Warum? Um ganz "normal" behandelt zu werden.

Phenix Kühnert: ",Normal‘ ist ein sehr schwieriges Wort."
Foto: Lina Tesch

"Normal", ein sehr schwieriges Wort, das ich in diesem Buch wohl ausschließlich in Anführungszeichen verwenden werde. Denn was ist schon "normal" in den gesellschaftlichen Konstrukten, innerhalb deren wir leben? Es gibt viele Alltagssituationen, die mich als trans Person aus der Bahn werfen können: ein Telefonat, ein Toilettenbesuch oder ein Termin mit einem Handwerker. Ich weiß nie, wer potenziell ein Problem mit mir haben könnte. Ich fühle mich wie in einem Karussell mit regelmäßigem Halt in Outing-Szenarien.

Ich bewege mich also durch das volle Wartezimmer. Die Wartenden schauen, als sei ich in einem fleckigen Sonntags-Couch-Outfit auf den Laufsteg einer Pariser Fashion-Show gefallen. Alle wollen sich vergewissern, welches Geschlecht dieser Mensch denn nun hat. Oder ob ein Irrtum vorliegt, den sie dringend aufklären müssen. Es wurde ja schließlich ein "Herr" aufgerufen – sie lesen mich aber als Frau. So kommt es im Gehirn der meisten zum Error. Diese Problemstellung muss nun irgendwie gelöst werden. Ist das also ein Mann?! Während die Gehirne dieses Problem bearbeiten, wird gestarrt. Auf eine Art freuen mich die Blicke, für mich bedeutet das, dass ich im Wartezimmer bisher als Frau wahrgenommen wurde. Ansonsten würde es nicht zu dieser Verwirrung kommen. Dennoch kann ich auf diese Bestätigung gern verzichten, denn das unangenehme Gefühl überwiegt.

Die Arzthelferin steht in der Tür des Behandlungszimmers. Sie schaut zu mir. Sie schaut auf meine Akte und wieder zu mir. Derselbe Error wie bei den anderen Anwesenden tritt auf. Das kann ich in ihren Augen lesen. Ich versuche zu lächeln und nicke ihr zu. Sie versteht meine Geste und tritt beiseite, sodass ich den Raum betreten kann. Ich bin es gewohnt, dass Menschen irritiert reagieren, wenn sie in einem solchen Kontext auf mich treffen. Auf offiziellen Dokumenten trage ich zu diesem Zeitpunkt einen gesellschaftlich "männlichen" Namen. Menschen lesen mich wiederum als Frau, und das führt zu Irritation. Diese Verwirrung ist für alle Beteiligten unangenehm. Es war ein langer Weg, bis ich verstand: Ich bin nicht das Problem in diesen Situationen. Ich muss meinen Mitmenschen das Leben nicht einfach und leicht durchschaubar machen. Ich muss glücklich sein. Und wie ich den Weg zu dieser und ganz vielen anderen Erkenntnissen gegangen bin, möchte ich teilen. Dieses Buch ist für meine Hautärztin, für ihr Personal, für alle, die je mit mir im Wartezimmer saßen, und für alle, die mich irgendwann angestarrt haben. Dieses Buch ist für Menschen, die ebenfalls angestarrt werden, für die, die sich weiterentwickeln wollen, und für alle, die mit offenen Augen durchs Leben gehen.

Wäre ich mit einer Vulva geboren worden, würde ich jetzt den Namen meiner jüngeren Schwester tragen. Aber wie würde sie dann heißen? Ein kurioser Gedanke. Unsere Eltern ließen sich im Laufe der Schwangerschaften nämlich nicht sagen, welche Genitalien ihre Kinder jeweils haben würden, und bereiteten sich auf alle Eventualitäten vor. Auf alle? Nein, das stimmt nicht ganz.

Wäre ich mit einer Vulva geboren

Meine Mutter hat sich 1995 nicht für das Geschlecht des Babys interessiert, das in ihrem Bauch wuchs. Das führte im Bekanntenkreis zu schiefen Blicken. Damals war es üblich, das "Geschlecht" vor der Geburt zu ermitteln. Wobei das eine falsche Ausdrucksweise ist, die sich etabliert hat. Es wird nämlich festgestellt, welche Genitalien das Kind haben wird. Und genau so sollte es auch bezeichnet werden. Denn: Geschlecht und Genitalien, das ist nicht dasselbe, das sind keine Synonyme. Und wenn Eltern sich dabei komisch fühlen, ihrem Umfeld zu berichten: "Jaaa, also wir haben den Genitalien-Check gemacht, und es wird einen Penis haben!", dann sollten sie wohl damit aufhören. Wie absurd es ist, auf diese Art von Ungeborenen zu erzählen, zeigt sich mit dieser anderen Wortwahl. Warum gehen wir davon aus, dass alle Kinder cisgeschlechtlich und heterosexuell sind? Schauen Menschen in einen Kinderwagen, kommen bei einem kleinen Jungen schnell Aussagen wie: "Der wird später vielen Mädchen den Kopf verdrehen!" – Aber was, wenn er schwul ist? Was, wenn sie trans ist? Genau solche Aussagen stecken Kinder direkt in vorgefertigte Rollen. Auf die Spitze wird das bei "Gender Reveal Partys" getrieben, also bei Veranstaltungen, bei denen das "Geschlecht" des Babys offiziell mitgeteilt und gefeiert wird. Dann fliegt hellblaues Konfetti durch die Luft oder ein rosaroter Glitzerregen vom Himmel. Wie ist ein Junge?! Wie ist ein Mädchen?! Oder anders gesagt: Wie haben sie zu sein? Kindern wird von Anfang an – ab ihrer Geburt – eingebläut, welche Eigenschaften zu ihren Genitalien passen.

Bei meiner Geburt wurde das Geschlecht "männlich" festgestellt, was für mich in einer vorgegebenen Rolle resultierte. Wenn ich Dinge aufzeige, die in meiner Kindheit nicht ideal gelaufen sind, kritisiere ich nicht per se meine Familie, sondern die Strukturen der Gesellschaft, die auch meine Verwandten erst entlernen mussten und müssen. Ich bin nicht in einer wundervollen Welt der geschlechtslosen Erziehung aufgewachsen. Dennoch hatte ich Freiheiten. Die ersten Jahre – soweit ich mich überhaupt erinnere – hat es mich nicht besonders interessiert, welches Geschlecht ich habe und was das nun für mich bedeutet. Das, was ich retrospektiv sagen kann, ist, dass sich vieles falsch angefühlt hat. Damals dachte ich aber, dass das eben so sei, sich so gehörte. Und andere Jungs bestimmt auch gern mal ein Kleid oder hohe Schuhe anhätten oder ihre Haare lang tragen wollten. Ich war immer fasziniert von den Zöpfen der Mädchen mit langen Haaren. Wenn sie im Sportunterricht vor mir liefen, war ich hypnotisiert von den glänzenden Haaren, die von rechts nach links schwangen. Oder von meiner liebevollen Oma, die stets top gestylt war. Der rote Lippenstift, die hohen Schuhe. Sie hatte so viel Glamour und Grazie. Genau so wollte ich auch eines Tages sein. Aber geht das? Es schien wie ein sehr, sehr ferner Traum. Eher wie einer, der immer unerreichbar bleiben würde. Etwas, was ich in meiner Fantasie mit einem Handtuch auf dem Kopf als Haarattrappe leben konnte.

Aber in der Realität? – Niemals. Ein Satz, der damals mehrfach über meine Lippen ging, war: "Mein Leben wäre einfacher, wäre ich als Mädchen geboren." Dass ich als Mädchen geboren wurde, nur in einem Körper, der anders aussieht als der vieler Mädchen, habe ich damals nicht verstanden. Ich habe ein X- und ein Y-Chromosom. Ich habe mit meinem Bruder im Garten Tore geschossen und mit meiner Schwester Modenschauen veranstaltet. In meiner Kindheit habe ich mir nämlich wirklich keine Gedanken darüber gemacht, was nun zu meinem Geschlecht "passt" und was nicht. Mit den Jahren kamen aber immer mehr Unverständlichkeiten auf, Dinge, die mich und wahrscheinlich auch andere irritierten: Warum wird mir im Geheimen eine neue Puppe geschenkt? Warum kann ich nicht mit meinen Freundinnen in die Sportumkleide? Warum schauen Menschen mich anders an als die anderen Kinder? Stimmt etwas mit mir nicht?

Phenix Kühnert, "Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau. Über trans sein und mein Leben". € 19,90 / 224 Seiten. Haymon Verlag, 2022

Und das ist der Punkt, bei dem sich etwas verändern muss: der Umgang mit Kindern. Kindern müssen gleiche Chancen geboten werden und der Freiraum, einfach das zu tun, was sie wollen. Egal, welches Geschlecht sie haben. Und da können wir uns wohl fast alle an die eigene Nase fassen. Sobald eine Schwangerschaft verkündet wird, ist oft die erste Frage: "Und, was wird es? Wünschst du dir ein Mädchen oder einen Jungen?" – Was für ein Quatsch. Und wie irrelevant. Auch ohne medizinische Expertise würde ich behaupten, dass das Geschlecht ziemlich egal ist, bevor ein Kind in die Pubertät kommt. Es gab 2018 ein Experiment, für das Babys gegensätzlich zu dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, stereotypisch "männlich" und "weiblich" gekleidet wurden. Babys sind ja sonst optisch sehr geschlechtsneutral. Je nach Farbe der Kleidung wurden den Kindern von Teilnehmenden unterschiedliche Charakterzüge und Lieblingsspielzeuge zugeordnet. War das Baby blau gekleidet, war angeblich ein Auto das liebste Spielzeug, war der Strampler rosa, angeblich eine Puppe. Absurd, was Erwachsene Kindern aufzwingen. Nur wenn Kinder die nötige Offenheit um sich spüren, können sie zu einer Generation heranwachsen, die weniger von Sexismus geprägt ist. Und das sollte doch eigentlich ein Wunsch sein, der uns alle eint. (Phenix Kühnert, 10.4.2022)