Alles fing hier mit der Kirche an. Schon früh stand sie da. Auf den Resten einer Kapelle, deren urkundliche Erwähnung auf das Jahr 1222 zurückgeht. Im 15. Jahrhundert ließ die damalige Herrschaft Landsee eine gotische Kirche errichten, zu welcher sich nach und nach Häuser gesellten, wenn auch nicht, wie zumeist üblich, rund um die Kirche: Entlang einer geraden Straße bewegte sich das Dorf von dieser Villa Santa Maria weg, in Richtung (Luftlinie) Landseer Burg. Dieser früher häufig frequentierte Verbindungsweg wurde in der Ära Maria Theresias im Bestreben, die miserablen Wegenetze der ungarischen Tiefebene zu verbessern, mit dem damaligen Modetrend einer Maulbeerbaumallee versehen.

Um das Kirchenschiff selbst gesellt sich der von einer löchrigen Mauer umgrenzte Friedhof. Diese Schießschartenlöcher sollen einst wehrhaft gewesen sein gegen die ständig einfallenden, plündernden und sengenden Kuruzen und Türken. Eine Zufluchts- und Wehrkirche also, in die man sich flüchten konnte, nicht selten auch vor den "edlen Rittern" aus Landsee selbst, die einfach vorbeischauten, um sich bei den Bauern nach Lust und Bedarf mit "Proviant" einzudecken. Eine Filialkirche: Rudimente zweier Tore in der Friedhofsmauer weisen nach Süden und Norden. Eine stark barockisierte Wallfahrtskirche, die nun seit etlichen Jahrzehnten ins Spätgotische zurückversetzt worden ist.

"Harter Menschenschlag. Harte Gespräche. Der Blick schräg am andern vorbei. Allem voran am Russen. Angst, auch die, dass sie hier sesshaft bleiben könnten": Das Bild zeigt Zeichnungen von sowjetischen Soldaten im Schloss Kohfidisch, Burgenland.
Foto: Robert Newald Photo

Hinter den Fassaden

Man war etwas in und mit dieser Kirche und mit dem Bild der wundertätigen Schwarzen Madonna, vor deren Blick ich mich als Kind gefürchtet habe (später wurde es entfernt und durch ein anderes ersetzt). Man durfte stolz sein auf diese Kirche, und dass Franz Liszt hier getauft worden ist (1811). Man war etwas, wenn sich zu Maria Himmelfahrt von hüben und drüben die Prozessionsleiber mit Pilgerstäben, dampfend, betend und Flaggen schwenkend, in Richtung Dorf wälzten, und die Terzgesänge der Kroaten, die vorhin schon Kukuruz und Weizen in Wallung gebracht hatten, verstiegen sich jetzt bis in den Zwiebelturm und läuteten den nachmittägigen Kirtag ein.

Sonntagnachmittag im August.Tiefe Wolken.Das alte Bild. Nichts hat sich geändert. Und alles ist anders. Zunächst fallen die rechts und links vor den Gehsteigen angelegten Grünstreifen ins Auge, dazwischen, als nette Geste, Blumenbeete. Schön auch der hängende Blumenwucher vor jedem einzelnen Fenster. Und jede Hausfassade wie frisch gestrichen. Ein gepflegtes Dorfbild. Alles blitzblank und sauber. Der Dorferneuerungsverein dürfte hier heftig grassieren. Kein einziges Huhn auf der Gasse, wie früher, nicht mal ein Hund. Alles wie ausgestorben, nein, zwei tratschende Frauen mit Schirm.

Ein Traktor? Weder zu hören noch zu sehen. Autos ja, geparkt in den Hauseinfahrten. Demonstrative, die Landluft verbessernde Bedeutungsverweise, die man auch schon früher zur Kirchfahrt benutzte, und seien es 50 Meter. Die Frage, ob es hinter diesen Fassaden noch Misthaufen gibt, erübrigt sich; weder Kühe noch Pferde und – ob das hier noch ein Dorf, ein Bauerndorf ist. Ob das hier noch mein Dorf ist?

Schlechtwetter seit Tagen. Nach dem Donner setzt heftiger Regen ein. Und mit einem Schlag das Gewesene: weder Gehsteig noch Straße. Nach längerem Regen rann hier alles zusammen. Dreckiger Sand und lehmiger Schlamm, genannt Gatsch. Und in ihm tiefe, von den Kuhwägen geschnittene Schneisen mit Kuhfladengatsch. Und in diesen hinein schnitten die von den Lastwägen der Russenbesatzer, die sich hier zwecks Abholzung des Esterházy’schen Hochwaldes tagtäglich kreuzten, so tiefe Gräben, dass die Bauern mit ihren Kuhwägen stecken blieben.

Sie nahmen es hin, gelegentlich murrten sie hinter der Hand, und man schob sich über ausgelegte Bretter und Pfosten wieder hinaus. Gatsch in den oft löchrigen Schuhen. Gatsch bis an die Knie, auch der Kühe. Und um halbwegs sauberen Fußes am Sonntag zur Kirche zu gelangen, wurden ebenfalls Bretter ausgelegt. Ein Tänzeln darüber hinweg, wenn auch nicht von allen zu schaffen, schon stand man – im Sommer aber für uns Kinder recht lustig, wenn wir barfuß darin waten konnten.

Lehmschlamm

Lehmschlamm und Gatsch. Der bei Frost zu steinharten Krusten gefror: ein Stolpern und Fallen. Nicht minder frostig das Leben hinter den Mauern. Nachkriegsbilder. Harter Menschenschlag. Harter Handschlag. Harte Gespräche zwischen verlorenen Sätzen. Der Blick schrägt am anderen vorbei. Allem voran am Russen. Angst, auch die, dass sie sesshaft bleiben könnten. Die nicht eingestandene Scham, nach der gewesenen NS-Kriegslust jetzt im krankmachenden Zustand der Fremdbestimmung gelandet zu sein.

Aber: es schaffen. Wir schaffen es, hieß die Devise: Und dieses jüngste Bundesland, dieser östlichste Landstrich, dieses jahrzehntelang kulturell und wirtschaftlich zurückgebliebene Nachzüglerland, hat sich gewaltig verbessert. Insbesondere auch nach dem EU-Beitritt und nachdem das Land zum Ziel-eins-Gebiet berufen worden war. Strohtristen auf den Feldern sucht man vergeblich. Und das Dorf selbst? Im Kollektiv geschwungene Krampen und Hacken haben das langgestreckte westungarische feuchte Mauerwerk niedergerungen. Und hier die Pracht der Folgebauten zu malen würde den Text sprengen. Verschwunden auch die Hosenstrumpfäcker. Alles zu Großvierecken geackert. Man denkt an den Pflug, mit dem man als Kind in dem steinigen Hotter gerackert hat, und an die Kühe, die den Pflug gezogen haben.

Das Haus, in dem man geschuftet hat, ist das Haus anderer geworden. Es besuchen, aufsuchen? Lieber nicht. Angst, wie heißt es, Schwellenangst? Das Kindheitshaus der Mutter, das Großmutterhaus noch einmal sehen? Also gut. Schleichen uns halt von hinten an wie die Diebe. Durchs nie vorhanden gewesene Gartentor bis vor in den Hof, in ein Chaos hinein. Verwahrlosung, sogar Dornen. Das alte Stadeltor schlägt im Wind. Der Kuhstall steht offen, so auch die Werkstatt des Vaters, an Kammer und Keller vorbeischauen, in die Küche durchs Fenster – schnell weg!

Starre Zeiger

Mit zugeschnürter Kehle hinaus. Nein, nicht heulen! Es fängt wieder an. Das Gewesene, Verdrängte. Steigt aus der Gedächtnistruhe herauf. Die Kälte der Mauern. Kindheit. Kein Reden, kein Fragen. Eingemummt in die Angst. Fiebrige Schleier. Ins fahle Schneelicht. Hinüber. Hinaus. Da und dort noch ein Baum. Die Skala steigt bis – bis zur Brücke. Zwischen starren Zeigern hinüber. Ob sie tragen wird. Ob es tragen wird, das blaue Boot nachziehen, nicht besteigen. Vor dem grellweißen Mond schlingern Töne – wie Klarinetten.

Sonntagnachmittag. Die Mutter fort, auf Besuch. Ein paar Hennen kratzen im Hof. Nein, du wirst keiner jemals den Kopf abhacken, so weit wirst du nie gehen. Du wirst gehen, wenn er nicht / Aber er kommt, das ist sicher. Ein Gedanke, der das Kind aufrecht hält. In der Hand ein Foto. Der Hund, dem ein Tritt einen Hinterlauf brach, tänzelt dir nach.

Wenn er bei dir ist, hast du weniger Angst, an Sonntagnachmittagen sitzen die Russen im Wirtshaus und saufen. Heimweh? Ob auch sie gehen wollen? In Vaters verstaubter, verstummter Werkstatt geistert es. Ratten, Mäuse, nachts Hexen. Die Werkstatt quillt über: Dieselmotore, kaputte Möbel, Spinnwebvorhänge über Werkzeugverschlägen, Hobeln, Zangen, Zwingen und Hämmer. Die alte Hobelbank voller Nägel und Schrauben, darüber, wie ein Kleinkind abgelegt, der gute alte Krauthobel, heftig begehrt und ausgeborgt von jedem im Dorf.

Und da ist dieser Koffer, offenstehend und überquellend, ein Koffer voller Musiken: Notenhefte und Lieder. Kompositionen. Die Stimmen einer kleinen Bauernkapelle. Du bist ein Notenstück, Liederstück, Kinderstück. Das Kind, das hier zu gehen anfing, fängt zu singen an. Stimmt ein mit den Polkaräuschen im unrunden Takt der Kirchenglocken, hört dunkle Wolkenmärsche und Trommelgedonner über die Felder fliehen und beschwipste Hochzeitsständchen und verfehlte Schlusskadenzen.

Stückwerk

Das Kinderstück wartet mit alldem und viel mehr: ein Vermisster? Schnell nach der Klarinette sehen gehen, sie ist die deine, die seine, sie liegt bereit, wartet in deinem Trostkasten, deinem Traumkasten. Ein Kasten voller Instrumente. Alles Stückwerk. Und da ist Vaters Geruch. Seine Hand streicht über dein Haar. Er sagt ... was hast du gesagt? Zerstückelt spricht er, auch du bist zerstückelt.

Wenn er zurück ist, wird er dich lehren, auch dich. Alles wieder zusammenstückeln für ihn. Vor dem Einrücken, so die Mutter, hat er jedes Blasinstrument zerlegt und in Ölpapier eingewickelt und alles im Stadel in einem ausgehobenen Erdloch vergraben. Erde darüber. Strohberg darüber. Die Russen haben gesucht. Nichts.

Ein Hammer, zwei Nägel. Das Fach liegt wieder fest in der Schiene. Klarinetten darauf. Du bist geschickt wie der Vater. Du kennst ihn nicht, aber du kennst ihn. Er geht neben dir her, wird gegrüßt, zieht den Hut. Gehen. Mit zugeschnürter Kehle. Du wirst bloß dem Pflug nachgehen nach der Schule, morgen und übermorgen, wirst den Stall ausmisten, wirst Klee für das Vieh mähen gehen, und dann wirst du – du wirst warten. Diesen Sommer noch, über den Winter noch, und dann wirst du gehen, und der, von dem du ein Foto hast, wird kein Heimkehrer sein. (Dine Petrik, 9.4.2022)