Das Bahnhofsgebäude in Kramatorsk.

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Die Überreste einer Rakete liegen vor dem Bahnhof.

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Dieses Foto hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj über seinen Telegram-Kanal verbreitet.

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Bei einem Angriff auf den Bahnhof im ostukrainischen Kramatorsk sind nach Angaben von Rettungskräften mindestens 39 Menschen getötet worden. Mindestens 100 weitere wurden verletzt, als zwei Raketen im Bahnhof einschlugen, von dem aus seit Tagen tausende Menschen aus dem Osten der Ukraine Richtung Westen fliehen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete Russland in einer ersten Reaktion als "das grenzenlose Böse".

Ein AFP-Reporter vor Ort sah mindestens 20 Tote in Leichensäcken und unter Plastikplanen. Zuvor hatte er in der Früh hunderte Menschen gesehen, die auf einen Zug zur Flucht Richtung Westen warteten.

Vor dem Bahnhofsgebäude standen ausgebrannte Autos, am Eingang und in der Bahnhofshalle waren Blutlachen und verkohlte Sitzbänke zu sehen. Auf dem Bahnhofsvorplatz lagen die Überreste einer Rakete mit der russischen Aufschrift "Für unsere Kinder". Der Platz war mit verlassenen Gepäcksstücken, Scherben und Splittern übersät.

Angriff während Evakuierung

Der ukrainische Präsident Selenskyj warf Russland in einer ersten Reaktion vor, die Zivilbevölkerung seines Landes "zynisch zu vernichten". "Dies ist das grenzenlose Böse", schrieb er auf Facebook. "Und wenn es nicht bestraft wird, wird es nie aufhören."

Gouverneur Pawlo Kyrylenko warf Russland vor, absichtlich auf Zivilisten gezielt zu haben. "Sie wollten so viele friedliche Menschen wie möglich als Geiseln nehmen, sie wollten alles Ukrainische zerstören", schrieb er bei Telegram.

Hingegen sprachen die prorussischen Separatisten in der selbsternannten Volksrepublik Donezk von einem ukrainischen Raketenangriff. Es seien Teile einer Rakete vom Typ Totschka-U zu Boden gefallen. Auch die Separatisten teilten mit, in Kramatorsk sei gerade eine Evakuierung gelaufen, Menschen sollten in Sicherheit gebracht werden.

Russland betont Angriffe auf militärische Ziele

Kramatorsk liegt in dem Teil des umkämpften ostukrainischen Gebiets Donezk, der von der Ukraine kontrolliert wird. Prorussische Separatisten erheben Anspruch auf das gesamte Verwaltungsgebiet. Die Menschen, die Koffer und Taschen bei sich hatten, wollten aus Angst vor Angriffen die Stadt verlassen.

Die ukrainische Führung hatte die Menschen in der Ostukraine zuvor dazu aufgerufen, sich in Sicherheit zu bringen und das Gebiet möglichst Richtung Westen zu verlassen. Russland hatte angekündigt, seine Angriffe auf die Region zu konzentrieren.

Die Luft- und Raketenstreitkräfte hätten 81 Militärobjekte beschossen, teilte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, mit. Zum Vergleich: Am Donnerstag hatte das Militär den Beschuss von 29 Objekten gemeldet.

Unter den getroffenen Zielen seien Kommando- und Stützpunkte der ukrainischen Armee sowie Artilleriegeschütze und Mehrfachraketenwerfer im Donbass, sagte Konaschenkow in einem am Freitag vom Ministerium veröffentlichten Video. "Nahe der Ortschaft Staraja Sbrujewka hat die russische Luftabwehr zwei ukrainische Kampfhubschrauber vom Typ Mi-8 und Mi-24 abgeschossen", sagte er. Zudem habe die russische Flotte ein Sammel- und Ausbildungslager "ausländischer Söldner" nahe Odessa vernichtet.

Sumy in ukrainischer Hand, Mariupol bleibt umkämpft

Ukrainische Truppen haben unterdessen nach Behördenangaben die Kontrolle über die gesamte Region Sumy an der Grenze zu Russland zurückerobert. "Das Gebiet ist frei von Orks", erklärte Regionalgouverneur Dmytro Schwyzkyj am Freitag. Er nutzte dabei ein ukrainisches Schimpfwort für russische Soldaten. Der Gouverneur warnte geflüchtete Bewohner vor einer raschen Rückkehr: "Die Region ist nicht sicher. Viele Gebiete sind vermint und noch nicht geräumt", erklärte er.

Die 350 Kilometer östlich von Kiew gelegene Stadt Sumy mit ursprünglich 250.000 Einwohnern und die umliegende Region waren wochenlang Schauplatz schwerer Kämpfe zwischen den russischen Angreifern und ukrainischen Streitkräften.

Ukrainischen Angaben zufolge konzentrieren sich die russischen Truppen weiter auf die Eroberung der südlichen Hafenstadt Mariupol. Das teilte der ukrainische Generalstab in seinem auf Facebook veröffentlichten morgendlichen Lagebericht am Freitag mit. Wie Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk in einer Videobotschaft mitteilte, sind am Donnerstag mehr als 4.500 Menschen aus umkämpften Gebieten in Sicherheit gebracht worden.

Die Militärexperten des US-Kriegsforschungsinstituts Institute for the Study of War (ISW) stellten in ihrer jüngsten Ukraine-Analyse fest, dass die russischen Streitkräfte wahrscheinlich in den kommenden Tagen die Eroberung von Mariupol abschließen könnten. Das russische Staatsfernsehen hatte berichtet, das Zentrum der Großstadt am Asowschen Meer sei bereits eingenommen. In der Stadt seien aber noch 3.000 ukrainische Kämpfer, hieß es.

Nach Angaben der von prorussischen Kräften eingesetzten Stadtverwaltung von Mariupol sind bei den Kämpfen in der ukrainischen Hafenstadt bisher rund 5.000 Zivilisten getötet worden. Der "neue Bürgermeister" Konstantin Iwaschtschenko sagte der staatlichen Nachrichtenagentur Tass laut am Donnerstag im Voraus veröffentlichten Auszügen eines Interviews, dass in der Stadt zudem "60 bis 70 Prozent" aller Wohnungen zerstört oder beschädigt seien.

Russische Luftangriffe

In dem ukrainischen Generalstabsbericht heißt es weiter, russische Truppen legten ein Hauptaugenmerk zudem auf eine Offensive rund um die von ihnen besetzte Stadt Isjum im Gebiet Charkiw im Osten des Landes. Dort hatte Moskau zuletzt nach Angaben aus Kiew Truppen konzentriert, um so in Richtung der Stadt Slowjansk im Donezker Gebiet vorzustoßen. Es gebe weiter russische Luftangriffe und Beschuss durch Raketenwerfer in mehreren Städten in den Gebieten Luhansk und Donezk.

Rund 1.200 der 4.500 am Donnerstag Evakuierten stammten aus dem belagerten Mariupol, weitere rund 2.000 aus mehreren Städten im Gebiet Saporischschja, teilte Vizeregierungschefin Wereschtschuk mit. Aus dem Gebiet Luhansk im Osten des Landes seien aus den Städten Lissitschansk, Sjewjerodonezk, Rubischne und Kreminna zudem weitere rund 1.400 Menschen evakuiert worden. Die ukrainische Regierung hatte Donnerstagfrüh landesweit zehn Fluchtkorridore angekündigt. Die Routen werden jeden Tag neu eingerichtet. Aus Moskau hieß es, aus Mariupol seien binnen 24 Stunden mehr als 2.000 Menschen ohne Beteiligung ukrainischer Behörden evakuiert worden. Russland und die Ukraine werfen sich immer wieder gegenseitig vor, die Evakuierung von Ortschaften und Städten zu sabotieren.

Der Abzug der russischen Truppen aus dem Norden der Ukraine ist nach Erkenntnissen britischer Geheimdienste abgeschlossen. Mindestens ein Teil dieser Kräfte werde wohl zum Kampf in die östliche Region Donbass verlegt, hieß es in einer Mitteilung des britischen Verteidigungsministeriums am Freitag auf Twitter.

Viele Einheiten müssten jedoch zuerst verstärkt werden, so die Einschätzung der britischen Experten. Sie rechnen daher damit, dass es mindestens eine Woche dauern wird, bis die zuletzt im Norden der Ukraine eingesetzten russischen Verbände in größerem Maßstab im Osten des Landes zum Einsatz kommen werden. (APA, 8.4.2022)