Manche Geschichten sind nicht so einfach zu erzählen. Wie diese. Es ist eine Geschichte von Liebe und Leid, von Flucht und Hilfe, von Verzweiflung und Erfüllung. Für alle Beteiligten ist es eine schwierige Geschichte, aber eine, die auch sehr schön ist inmitten der Verwundungen, die hier stattgefunden haben.

Eigentlich hätte es eine ganz einfache Geschichte sein sollen: Sophie hat 2015 syrischen Flüchtlingen geholfen, und jetzt steht sie wieder da, bereit zu helfen, Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen. Wenn auch mit etwas mehr Distanz als damals, wie sie sagt. Sie sei nicht mehr ganz so blauäugig. Aber diese Geschichte tut auch weh, warnt sie mich vor unserem Treffen.

Ganz grundsätzlich meint Sophie: Wer hat, muss auch geben. Nicht ganz uneigennützig: Denn wer gibt, hat meistens mehr davon als der, der bekommt, glaubt Sophie. Die Situation heute sei mit der von damals nicht ganz vergleichbar: Die Flüchtlinge aus der Ukraine seien mehr "wie wir", daher sei jetzt auch die Hilfsbereitschaft viel breiter und größer als damals, als hauptsächlich Flüchtlinge aus Afghanistan und Syrien kamen, in der großen Überzahl Männer. Damals waren es in der Regel Linke, die angepackt haben, die "Gutmenschen". Heute herrschen breiter Konsens und Solidarität mit der Ukraine. Für Sophie hat das ein bisschen einen bitteren Beigeschmack.

Hilferuf über Facebook

2015 stand sie jedenfalls am Westbahnhof und verteilte Essen. Und das war ihr nicht genug. Sie wollte mehr tun, richtig helfen. Mit Götz Schrage war sie über Facebook bekannt. Schrage, ein Fotograf, ehemaliger Musiker und Glücksspieler, engagierte sich als ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer im Kurier-Haus, das vor dem Abriss zum Flüchtlingsquartier umfunktioniert wurde. Auf Facebook führte er darüber so eine Art Tagebuch. Als Schrage einen Hilferuf losschickte, weil das Kurier-Haus schon übervoll war und Frauen und Kinder auf dem Gang am Boden schliefen, meldete sich Sophie bei ihm: Sie und ihre Familie würden helfen. Und gerne eine Frau mit Kindern bei sich aufnehmen.

Yara und Kaya haben eine neue Familie adoptiert, der alten bleiben sie verbunden.
Foto: Heribert Corn

Noch am selben Tag rief Schrage an, Stunden später war Sophie im Kurier-Haus. Eine kleine, schmächtige Frau mit Kopftuch stand vor ihr, Nadima, völlig eingeschüchtert, drei Kinder, ein Bub, ein Jahr, zwei Mädchen, zweieinhalb und dreieinhalb Jahre alt. Und ein Mann, von dem bisher keine Rede gewesen war. Tareq. Der Ehemann und Vater der Kinder. Der war nicht ausgemacht, aber er war nun einmal auch da. Tareq war schon länger in Österreich, aber da er es mit der Wahrheit nicht so genau nahm, wie sich noch herausstellen sollte, blieb auch das unklar.

Sophie und ihr Mann, er heißt Max, ist 59 Jahre alt, Schauspieler und Musiker, nahmen die Familie bei sich auf. Platz hatten sie in einer großen Wohnung im siebenten Bezirk genug. Sophie ist 47, Handelsagentin für medizinisches Material – ein krisensicheres Geschäft, wie sie anfügt. Zwei Söhne waren schon aus dem Haus, Vivien, die Tochter, machte gerade Matura, sie räumte bereitwillig ihr Zimmer. Die Hilfe für die Flüchtlinge war für die Familie ein willkommenes Projekt, die Großherzigkeit übermannte alle, Sophie und Max stürzten sich mit großem Eifer hinein, Vivien half gerne mit. "Fluchtgeschichten gehen mir sehr nahe", sagt Sophie. Auf Missverständnisse und auch auf einen kulturellen Clash war sie eingestellt, sagt sie. Auf das, was kam, nicht.

Was der Vater verschweigt

Tareq, der Vater, hatte schon einen positiven Asylbescheid. Vieles, was er erzählte, stimmte nicht, und manches erzählte er nicht. Dass er mittlerweile eine neue Frau über das Internet in Marokko kennengelernt und geheiratet hatte, etwa.

Zwei Monate blieb die Familie in der Wohnung bei Sophie und Max, mit dem Enthusiasmus ließ sich vieles überspielen. Nadima war sehr verschlossen. Sie war still, Tareq charismatisch. Die beiden jüngeren Kinder hingen extrem an der Mutter. Yara, das ältere der beiden Mädchen, war offen, sehr neugierig, "von ihr ging ein Strahlen aus", erinnert sich Sophie. Yara war sehr liebesbedürftig, sehnte sich nach Zuneigung und Aufmerksamkeit, und Sophie ging das Herz über, immer mehr. "Yara hat uns adoptiert", sagt sie.

Im Jänner 2016 organisiert Sophie der syrischen Familie eine Wohnung an der Alten Donau, sie hält weiterhin engen Kontakt, kümmert sich vor allem um Yara, mit der sie viel Zeit verbringt. Das Mädchen übernachtet am Wochenende bei ihr und Max, später ist sie unter der Woche bei ihnen und nur am Wochenende bei seinen Eltern. Ein schlaues, aufgewecktes Mädchen, sehr intelligent, vielseitig begabt, in eineinhalb Monaten lernt sie Deutsch. Zu Hause gibt es Ohrfeigen. Das versucht Sophie abzustellen. Sie ist resolut und geht einem Konflikt nicht aus dem Weg. Auch nicht mit Tareq, dem Vater. Kinder schlägt man nicht, erklärt ihm Sophie. Nicht bei uns. "Sonst gehst du ins Gefängnis."

Die Stimmung kippt

Nadima ist eine sehr unterwürfige Frau, sie dient ihrem Mann, und der behandelt sie nicht gut. Sophie bekommt mit, dass Tareq seine Frau schlägt, die Kinder bekommen das auch mit. Als Tareq wegen einer Asthmaerkrankung im Spital ist, öffnet sich Nadima Sophie und erzählt ihr von den Schlägen, den Demütigungen und von der anderen Frau. Nadima übersiedelt mit den Kindern in ein Flüchtlingsheim, hält vorerst Distanz zu Tareq. Sophie und ihr Mann Max kümmern sich verstärkt um Yara, das ältere Mädchen.

Tareq und Nadima kommen wieder zusammen, er schlägt sie, sie trennen sich, Nadima begeht einen Selbstmordversuch, sie wird zweimal schwanger und verliert jeweils das Kind. Mittlerweile ist auch die Polizei involviert, es gibt ein Betretungsverbot für Tareq. Nadima, die vor ihm geschützt werden soll, versteckt ihn bei sich in der Wohnung.

Kontakt abgebrochen

Yara, das Mädchen, ist verstört, wenn sie von ihrer Familie kommt. Und weint. Nicht wegen des Kriegs oder der Flucht, sondern wegen der Situation zu Hause. Schließlich bricht Tareq den Kontakt zu Sophie und Max ab. Er verbietet seiner Frau und den Kindern, das Paar noch zu sehen. Sophie ist verzweifelt. Sie hat das Mädchen extrem lieb gewonnen, sie macht sich Sorgen. Yara fehlt ihr. Auch wenn sie es so nicht ausspricht: Sie liebt dieses Mädchen. Und sie hat ihr Potenzial erkannt, hat gemerkt, wie das Kind in ihrer Obhut aufblüht. Es ist eine extrem bittere Erfahrung. Sie haben geholfen und gegeben, jetzt werden sie zurückgestoßen. Der Bruch mit der Familie, der sie sich so verbunden fühlen, verletzt Sophie und Max. Stärker, als sie sich das hätten vorstellen können.

Zwei Mädchen aus Syrien, mittlerweile neun und zehn Jahre alt, entschieden sich für ein anderes Leben.
Heribert Corn

Drei Wochen später kommt ein Anruf vom Wilhelminenspital, Sophie ist dort immer noch als Kontaktperson registriert: Nadima ist im Krankenhaus. Wieder geschlagen vom Mann, mit einer Stange. Das Jugendamt hat alle drei Kinder mitgenommen. Djamal, der Bub, noch keine drei Jahre alt, kommt vorerst zu einer Krisenpflegefamilie. Die Mädchen, knapp vier und fünf Jahre alt, werden in einem Krisenzentrum untergebracht. Sophie besucht die Kinder im Heim, sooft es geht. Sie nimmt beide Mädchen auch auf einen Skiurlaub auf eine Hütte mit.

Zurück im Kinderheim begleitet Sophie Kaya, das jüngere Mädchen, das bisher auch ihr gegenüber sehr verschlossen blieb, aufs Klo. Das Mädchen fragt: "Kommt Yara wieder zu euch?" "Wenn es möglich ist, ja", antwortet Sophie. "Und ich?", fragt Kaya. Sophie kurz entschlossen: "Du kommst mit."

Ein Einsatz eskaliert

Ein Termin auf dem Jugendamt eskaliert. Tareq und Nadima wollen die Kinder zurück, Tareq hat auch einen Freund mitgebracht, angeblich ein Dolmetscher. Sie bedrohen den Sozialarbeiter. Der ruft die Polizei. Der Einsatz eskaliert, Tareq und sein Freund gehen auf die Polizeibeamten los. Am Ende ist klar: Dem Paar wird die Obsorge für die Kinder entzogen.

Sophie und Max beantragen die Pflegschaft für die beiden Mädchen. Auch wenn Max skeptisch ist: Jetzt noch einmal zwei Kinder großziehen? Sophie durchläuft im Eilverfahren die Pflegeelternausbildung, im März 2017 ziehen die beiden Mädchen bei Sophie und Max ein. "Es waren sehr intensive und schöne Monate", erzählt Sophie, aber es war auch eine schwierige Zeit: Die Mädchen sind extrem anlehnungsbedürftig, nachts haben sie Albträume, machen ins Bett. Kaya, die Kleinere der beiden, öffnet sich, und sie beginnt von einem Tag auf den anderen zu reden, in perfektem Deutsch.

Schwierige Termine

Die leiblichen Eltern sehen sie einmal im Monat auf dem Jugendamt. Es sind für alle Beteiligten schwierige Termine. "Ich brauche dich so", flüstert Nadima ihrer Tochter Yara zu. Das Mädchen hat Schuldgefühle, kann tagelang nicht schlafen. Schuldgefühle auch deshalb, weil sie weiß, was Papa mit ihrer Mama gemacht hat, wenn er sie ins andere Zimmer geschickt hat. Sie hat durchs Schlüsselloch zugesehen.

Bei einem Termin mit der Gerichtspsychologin werden die Kinder einzeln angehört, dann gemeinsam mit Sophie. Intuitiv sagen beide Kinder vor der Psychologin "Mama" zu der Frau, die sie bisher immer Sophie genannt haben. Das erste Mal.

"Es sind unsere Kinder", sagt Sophie jetzt, und sie liebt sie wie die eigenen. Auch Max, ihr Mann, hat damit leben gelernt, dass die Kinder, die seine Enkel sein könnten, nun Papa zu ihm sagen. Er hatte eigentlich eine andere Lebensplanung. "Aber weißt du, Kinder brauchen jemanden, der immer für sie da ist", klärte Yara ihn auf. Max hat das verstanden.

Ein besseres Leben

Die leiblichen Eltern treffen sie regelmäßig. Tareq und Nadima sind immer noch oder schon wieder zusammen, sie haben drei weitere Kinder bekommen und den Kampf um Yara und Kaya offenbar aufgegeben. Tareq, so der Eindruck und die Hoffnung von Sophie, hat sich gebessert. Er dürfte nicht mehr gewalttätig sein, allerdings erst, nachdem das Paar die Obsorge für ihre ersten drei Kinder verloren hat. Es ist ein extrem hoher Preis, den sie gezahlt haben, um jetzt ein besseres Leben haben zu können, sagt Sophie.

Die beiden Mädchen treffen auch regelmäßig Djamal, ihren kleinen Bruder. Es geht ihm gut, sehr gut sogar, er ist in seiner neuen Familie kein kleiner Prinz mehr, sondern ein ganz normaler Bub. Mit dem Freiraum, den er hat, und den klaren Grenzen, die ihm gesetzt werden, kommt er bestens zurecht. Seine neue Familie hat er innig angenommen. Sophie und Max sind mit den Pflegeeltern von Djamal mittlerweile gut befreundet, sie verbringen auch Urlaube miteinander. Alle Beteiligten haben gelernt, mit den Umständen zu leben, sie haben das Erlebte, so gut es geht, verarbeitet.

Auch die Frage des Kopftuchs steht im Raum. Die Entscheidung werden die Mädchen treffen müssen. Oder dürfen. Das zu beurteilen ist eine Frage des Standpunkts.
Foto: Heribert Corn

Frage des Kopftuchs

Das Verhältnis zwischen Tareq, Nadima, Sophie und Max könnte man als amikal bezeichnen, mit Vorbehalten. Die beiden Mädchen lieben ihre Eltern, die Pflegeeltern wie auch die leiblichen Eltern. Sie haben sich entschieden, wo sie leben möchten. Bei Sophie und Max. Aber das kann sich noch ändern, die Mädchen sind neun und zehn Jahre alt. Allen ist bewusst, dass noch schwierige Zeiten kommen können, die Pubertät, auch die Frage des Kopftuchs steht im Raum. Das sehen Eltern und Pflegeeltern unterschiedlich. Die Entscheidung werden schließlich die Mädchen selbst treffen müssen. Oder dürfen. Das kommt auf den Blickpunkt an.

Sophie hat ihre Bereitschaft, Flüchtlinge aus der Ukraine vorübergehend aufzunehmen, bei der Volkshilfe und der Gemeinde Wien gemeldet. Ihr Mann Max hat Sophie mit einer Kopfbewegung in Richtung des Zimmers der Mädchen gefragt, ob sie sich denn sicher sei. Sie hätten da immerhin ein noch nicht ganz vollendetes Projekt, meinte er. Sophie sagte: "Es ist unsere Pflicht zu helfen, wenn es uns so gut geht." Eine Familie aus der Ukraine hat ein Wochenende bereits bei ihnen verbracht, ehe sie weitergereist ist.

Diesmal mehr Distanz

Sophie hat sich vorgenommen, ihr Herz zu öffnen, aber Distanz zu wahren. So selbstlos großherzig zu sein wie damals, 2015, das schafft sie nicht mehr. Sie will etwas beitragen, aber sie will sich nicht hineinstürzen. Es ist eine schwierige Balance: zu geben, zu nehmen, Abstand zu halten. Sophie und Max haben bittere Enttäuschungen erlebt und unerwartet neues Glück gefunden. Um die neuen Flüchtlinge, so noch welche kommen, werden sich in erster Linie Max und seine Tochter Vivien kümmern. "Ich bin jetzt für zwei kleine Kinder verantwortlich", sagt Sophie, "ich habe die Kapazitäten und die Zeit auch gar nicht mehr."

Als wir uns wiedertreffen, geht ein Strahlen von Sophie aus. Yara, das größere der beiden Mädchen, wurde in den Ausbildungskurs des Balletts der Wiener Staatsoper aufgenommen – ohne extra dafür geübt zu haben, wie Sophie mehrfach betont. Sie ist so stolz, wie eine Mutter nur sein kann. Im Herbst werden die Mädchen sechs Jahre in Österreich sein: Sie können den nächsten Schritt setzen und die österreichische Staatsbürgerschaft beantragen. Dann sind sie nicht mehr staatenlos. Eine Heimat und einen sicheren Hafen haben sie schon gefunden. (Michael Völker, 10.4.2022)