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Am 14. August 2018 brach in der Hafenstadt Genua die Morandi-Autobahnbrücke zusammen.

Foto: AP/Antonio Calanni

Unter den 59 Angeklagten befinden sich unter anderem der frühere Chef des Autobahnbetreibers Autostrade per l'Italia (Aspi), Giovanni Castellucci, mehrere Angestellte des Ingenieurbüros Spea sowie Beamte des Transportministeriums. Sie müssen sich wegen des neuen Straftatbestands "Straßenmord", Verursachung eines Desasters, Verstößen gegen die Sicherheit des Straßenverkehrs und Falschaussage verantworten.

Dass es an der Brücke Probleme gegeben hat, wäre "selbst einem Rentner beim bloßen Besichtigen des Bauwerks aufgefallen", betonte der leitende Staatsanwalt von Genua, Francesco Pinto, als er den Prozess beantragte. Diesem Antrag hat die Untersuchungsrichterin Paola Faggioni nun stattgegeben.

Vorwurf der Untätigkeit

Die Angeklagten hätten alle gewusst, dass die Morandi-Brücke, die am 14. August 2018 bei einem schweren Unwetter eingestürzt war, stark angerostet gewesen sei, lautet der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Trotzdem hätten die Verantwortlichen nichts unternommen, um die Probleme zu beheben – um das Geld für die dringende Sanierung zu sparen und weil das Ausschütten von Dividenden an die Aktionäre der privaten Autobahn Vorrang gehabt habe.

Während der Ermittlungen hatten die Ankläger 60 Terabyte Daten ausgewertet, die auf Computern und Mobiltelefonen der Angeklagten und ihrer Firmen sichergestellt wurden; 200 Zeugen wurden befragt und mehrere Tausend Telefonate abgehört. Die Anklageschrift umfasst an die 2.000 Seiten. Den Angeklagten drohen langjährige Freiheitsstrafen.

Prozessbeginn im Juli

Der Prozess wird am 7. Juli beginnen – also fast vier Jahre nach dem Einsturz der Brücke. Längst sind in der Zwischenzeit die Überreste des alten Viadukts abgebaut und gesprengt worden; an der gleichen Stelle ist in Rekordzeit ein neues, über 1.000 Meter langes und 45 Meter hohes Viadukt erstellt worden: Das neue Bauwerk, zu dem der aus Genua stammende Stararchitekt Renzo Piano kostenlos den Entwurf beigesteuert hatte, ist im August 2020 dem Verkehr übergeben worden. Die Baukosten betrugen laut offiziellen Angaben lediglich 202 Millionen Euro, der Abbruch der alten Brücke kostete 230 Millionen Euro.

Kurz vor dem Abschluss steht auch die weitgehende Verstaatlichung des Autobahnbetreibers Autostrade per l'Italia. Die Renationalisierung des Unternehmens war nach dem Brückeneinsturz von der regierenden Fünf-Sterne-Protestbewegung gefordert worden. Am kommenden 5. Mai werden 88 Prozent der Anteile in den Besitz der staatlichen Förderbank Cassa Depositi e Prestiti (CDP) übergehen. Kleinere Anteile werden auch private Investmentfonds wie Blackrock übernehmen.

Bisher gehörte der Autobahnbetreiber zur Atlantia-Holding, die von der Familie Benetton kontrolliert wird. Im Hinblick auf die Verstaatlichung hat Untersuchungsrichterin Faggioni eingewilligt, dass sich Aspi und Spea gegen die Bezahlung von 30 Millionen Euro von dem im Juli beginnenden Prozess "freikaufen" können. Die Aspi hatte bereits vor einigen Monaten einer Entschädigungszahlung von über drei Milliarden Euro an den italienischen Staat zugestimmt.

Opferangehörige erwarteten Strafprozess

Vertreter der Angehörigen der Absturzopfer zeigten sich zufrieden mit dem Entscheid der Untersuchungsrichterin, die 59 Angeklagten an ein urteilendes Strafgericht zu überweisen: "Heute ist die Bestätigung dafür gekommen, was wir die ganze Zeit schon sagen", sagte Egle Possetti, Präsidentin der Angehörigenkomitees. Die Anwälte des Hauptangeklagten Castellucci dagegen erklärten, dass die Ermittlungen unfair geführt worden seien und prophezeiten, "dass die Anklage ein welkes Blatt ist, das im Herbst zu Boden fallen wird". (Dominik Straub aus Rom, 8.4.2022)