Europarechtsexperte Franz Leidenmühler skizziert in seinem Gastkommentar, wie man Wladimir Putin vor Gericht bringen könnte.

Am Morgen des 24. Februar 2022 ist die Geißel des Angriffskrieges nach Europa zurückgekehrt. Der anlasslose Einmarsch von Truppen der Russischen Föderation in die Ukraine beabsichtigt, wie sich mittlerweile zeigt, ausschließlich die brutale Eroberung eines souveränen Staates, die Niederwerfung seiner Streitkräfte, den Wechsel seiner politischen Führung.

War die von Präsident Wladimir Putin tags zuvor erklärte Anerkennung der selbsternannten "Volksrepubliken" in Donezk und Luhansk noch "lediglich" als völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Nachbarstaates zu qualifizieren, so stellt die bewaffnete Invasion ein internationales Verbrechen dar. Der russische Eroberungskrieg in der Ukraine verstößt gegen den Grundpfeiler des Völkerrechts seit 1945 – das in der Uno-Charta niedergeschriebene Gewaltverbot.

Russland weist die Verantwortung für das Massaker in Butscha von sich: Präsident Wladimir Putin.
Foto: Imago Images / Itar-Tass

Die Reaktion der westlichen Staatengemeinschaft erschöpft sich aktuell neben politischer Kritik in erster Linie in ökonomischen Sanktionen. Letztere schaden Präsident Putin, seinen Vertrauten, der Wirtschaft und dem Bankensystem der Russischen Föderation sicherlich, vermögen aber die Fortsetzung der Aggression gegen die Ukraine nicht zu stoppen. Dass weiters dem UN-Sicherheitsrat, der nach dem System der Uno-Charta für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens, nötigenfalls auch mit militärischen Mitteln, zuständig wäre, im gegebenen Fall die Hände gebunden sind, ergibt sich zum einen aus dem Vetorecht der Russischen Föderation als eines seiner fünf ständigen Mitglieder. Zum anderen aber ganz pragmatisch daraus, dass ein militärisches Vorgehen des Sicherheitsrates in einem Konflikt, in dem eine Atommacht involviert ist, die Welt an den Rand des Abgrunds führen könnte. Und auch der von der Ukraine im März angerufene Internationale Gerichtshof (IGH) hat nicht erreicht, die Aggression einzustellen.

Verbrechen der Aggression

Was bleibt? Ist das Völkerrecht wirklich so zahnlos, dass dem russischen Raubzug in der Ukraine und Gräueltaten, wie sie nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Butscha, Irpin und anderen Vorstädten Kiews sichtbar werden, mehr oder minder tatenlos zugesehen werden muss? Nein! Mit 1. Juli 2002 hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag seine Tätigkeit aufgenommen, durch den zwar nicht Staaten, aber Einzelpersonen wegen schwerster internationaler Verbrechen verfolgt werden können. Dazu zählen unter anderem Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, für die auch Putin als Oberbefehlshaber der Streitkräfte verantwortlich gemacht werden kann.

Zudem fällt nach langen Diskussionen der Vertragsstaaten seit Juli 2018 auch das Verbrechen der Aggression in die Zuständigkeit des IStGH. Dazu zählen explizit die Invasion und Besetzung eines anderen Staates sowie die Bombardierung und Blockade von Häfen und Küsten. Allesamt Verbrechen, die auf direkten Befehl Putins derzeit in der Ukraine verübt werden.

"Der russische Eroberungskrieg in der Ukraine verstößt gegen den Grundpfeiler des Völkerrechts seit 1945 – das in der Uno-Charta niedergeschriebene Gewaltverbot."

Bleibt nur noch das Problem der Zuständigkeit. Weder die Russische Föderation noch die Ukraine sind Mitgliedsstaaten des Römischen Statuts des IStGH. Aber es gibt doch eine Option: Die Ukraine kann wie jeder andere Nichtmitgliedstaat durch Abgabe einer entsprechenden Erklärung beim Haager Tribunal um die Verfolgung schwerer Verbrechen auf dem eigenen Staatsgebiet ersuchen. Mit dem Risiko freilich, dass dann auch das Verhalten der eigenen Truppen überprüft wird. Das hat die Ukraine übrigens schon einmal gemacht: Um Ermittlungen des Weltstrafgerichtshofs gegen den ehemaligen Präsidenten WiktorJanukowitsch wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ermöglichen, erkannte sie die Zuständigkeit des IStGH für den Zeitraum 2013/2014 an.

Eine Anklage durch Den Haag hätte zur Folge, dass Putin, egal ob in seiner Eigenschaft als Präsident der Russischen Föderation oder irgendwann als Privatperson, nie wieder in einen der Mitgliedsstaaten des Römischen Statuts – und das sind immerhin 123 Staaten, darunter alle Mitgliedsländer der EU – reisen könnte. Er würde nämlich umgehend festgesetzt und an den IStGH ausgeliefert. Und das wäre wohl die schmerzhafteste Sanktion für den Aggressor. (Franz Leidenmühler, 9.4.2022)