Wenn die Eltern psychisch krank sind, belastet das auch die Kinder. Sie sind dadurch deutlich stärker gefährdet, später selbst psychisch zu erkranken. Die richtige Unterstützung kann das verhindern.

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Psychische Erkrankungen sind immer noch ein Tabu in der Gesellschaft. Hat ein Familienmitglied eine Psychose, leidet an Schizophrenie oder auch nur an starker Depression, wird das allzu oft totgeschwiegen. Das führt aber dazu, dass die Auswirkungen von psychischen Erkrankungen in der breiten Gesellschaft immer noch viel zu wenig thematisiert werden, die Betroffenen kaum eine Stimme bekommen. Und eine Gruppe gerät dabei oft völlig unter die Räder: die Kinder der Betroffenen.

Genau dieser Sachverhalt war der Anlass für das "Village-Projekt" – ein internationales Forschungsprojekt, das hauptsächlich von der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft finanziert wird. Beteiligt sind außerdem Universitäten in Marburg, London, Melbourne und die Med-Uni Innsbruck. Auch das Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA) ist Projektpartner und wertet die in Tirol gesammelten Erfahrungen in einer Studie aus.

"Die meisten Programme zur Behandlung und Unterstützung psychisch erkrankter Menschen haben den Fokus auf den Betroffenen und wie man ihre Krankheit behandeln kann", erklärt Ingrid Zechmeister-Koss vom AIHTA. "Das soziale Umfeld wird nur selten miteinbezogen. Man sieht etwa nur die Patientin, aber nicht die Mutter. Dabei ist das ein wesentlicher Teil ihrer Identität."

Und einer, bei dem sich ihr Zustand auf andere auswirkt. Denn ist ein Elternteil psychisch krank, müssen Kinder oft sehr viel Verantwortung übernehmen: einkaufen, kochen, aber etwa auch in Krisensituationen die Rettung rufen. Zechmeister-Koss weiß: "Da ist es wichtig, auch die Bedürftigkeit der Kinder zu sehen. So kann man verhindern, dass sie womöglich später selbst krank werden." Denn das kommt relativ häufig vor. Zechmeister-Koss betont dabei, dass das kein Automatismus ist – aber das Risiko ist deutlich erhöht.

Neuorganisation der Strukturen

Was passiert nun beim Village-Projekt? Mit dem Bewusstsein, dass man die Kinder unterstützen muss, fand man als Erstes heraus, ob psychisch kranke Menschen Kinder haben: Also fragte man Patientinnen und Patienten in stationärer Behandlung und bei niedergelassen Psychiatern und praktischen Ärztinnen danach. Zechmeister-Koss: "Das klingt banal, ist aber nicht Standard. Das soziale Umfeld ist bei der Behandlung nicht im Fokus."

Im nächsten Schritt wurde eine Betreuung angeboten. Stimmte der oder die Betroffene zu, wurde die Familie mehrere Wochen oder Monate begleitet: "Psychologisch ausgebildete Personen sind zu den Familien gefahren, haben mit Kindern, Familienangehörigen, Nachbarn, Therapeutinnen gesprochen, also mit allen, die im individuellen Netzwerk sind, und die verschiedenen Bedürfnisse abgefragt. Auf dieser Basis wurde dann versucht, den Alltag besser zu organisieren."

Der Fokus liegt dabei auf den Kindern. Sie können mit spielerischen, darstellenden Methoden, etwa einem Spinnennetz, zuordnen, welchen Platz die Menschen in ihrem Umfeld haben, welche Aktivitäten ihnen wichtig sind. Gesamtprojektverantwortliche Jean Paul weiß: "Das können auch kleine Kinder schon, wir arbeiten bereits mit Vierjährigen."

Keine Schuldgefühle mehr

Das Umsetzen der erfragten Bedürfnisse bringt positive Entlastungen für alle Beteiligten. Derzeit werden die Projekterkenntnisse ausgewertet, einige Rückschlüsse kann man aber schon ziehen: "Die Kindern haben gelernt, Tabus anzusprechen. Sie wussten oft gar nicht, was mit den Eltern nicht stimmt. Jetzt verstehen sie es besser, das nimmt ihnen Angst und auch Schuldgefühle. Gleichzeitig entlastet sie das Neuordnen der Strukturen, sie müssen im Haushalt nicht mehr so viel tun, bekommen ein Bewusstsein dafür, dass die Verantwortung falsch verteilt war, können wieder mehr Kind sein."

Und auch die Eltern – hauptsächlich haben Mütter an dem Projekt teilgenommen – wurden entlastet: "Einige haben gelernt, sich Hilfe überhaupt zuzugestehen. Nur weil sie psychisch belastet sind, bedeutet das nicht, dass sie ihre Verantwortung als Mutter nicht wahrnehmen wollen. Im Gegenteil, viele machen sich großen Druck. Da konnten wir Entlastung schaffen", erzählt Jean Paul.

Dass das Thema ein mehr als dringendes ist, zeigen die nackten Zahlen: In Österreich haben zumindest 250.000 psychisch belastete Eltern minderjährige Kinder. Fehlt ein stabiles Netzwerk an Bezugspersonen, sind diese Kinder deutlich stärker gefährdet, später selbst psychische Belastungen zu entwickeln. Das Village-Forschungsprojekt läuft mit Ende August aus. Man möchte diese wertvolle Arbeit in Tirol nun fortsetzen – doch es fehlen die finanziellen Mittel. Dabei braucht es im Verhältnis wenig: "Mit 150.000 Euro könnten wir 50 weitere Familien betreuen", betont Zechmeister-Koss. "Im Vergleich zu medizinischen Therapien, in die jährlich Millionen Euro öffentliche Gelder investiert werden, ist das eine sehr kleine Summe." (Pia Kruckenhauser, 10.4.2022)