Amtsinhaber Macron (links im Bild) liegt in Umfragen vorn, doch Rechts-außen-Kandidatin Le Pen (rechts im Bild) könnte ihm gefährlich werden. Knapp dahinter – auf Platz drei – liegt Mélenchon (vorne im Bild).

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Es sei eine "seltsame Kampagne", urteilt Brice Teinturier vom Umfrageinstitut Ipsos. Die Wähler seien erschöpft von der Pandemie, besorgt wegen der Folgen des Ukraine-Krieges. Sie dächten eher an den Benzinpreis als an die Frage, wer ihr Land in den nächsten fünf Jahren lenken sollte. Alle Demoskopen rechnen mit einer Rekordzahl an Stimmenthaltungen. Kurz: Frankreich steht vor seiner Königswahl – hat aber den Kopf ganz woanders.

Das ist umso erstaunlicher, als Frankreich je nach Wahlausgang einen jeweils völlig anderen Kurs nehmen würde. Der zur Wiederwahl antretende Präsident Emmanuel Macron, laut Umfragen der Favorit mit 27 Prozent der Stimmen, steht für Kontinuität. Doch hinter ihm balgen sich zwei radikalpopulistische Kandidaten um den Einzug in die Stichwahl vom 24. April: Marine Le Pen (22 Prozent) auf der Rechten und Jean-Luc Mélenchon auf der Linken (16 Prozent). Und beide haben in den letzten Tagen stark zugelegt.

Verhältnis zum Kreml

Auch das ist erstaunlich: Das an sich sehr ungleiche Duo gilt als Russland-freundlich und muss sich gegen den Vorwurf verteidigen, allzu lange auf der Seite möglicher nachmaliger Kriegsverbrecher gestanden zu sein – oder insgeheim immer noch zu stehen. Als Moskau die Invasion in der Ukraine startete, kommentierten Pariser Medien schon, die zwei Aufsteiger hätten sich selbst disqualifiziert, ja "erledigt".

Eingebrochen ist in den Umfragen aber nur der rechte Putin-Versteher Éric Zemmour (neun Prozent). Le Pen und Mélenchon, die sich aus der Kommandostruktur der Nato zurückziehen wollen, schadete ihre Russland-Affinität nicht. Zöge sie oder er ins Élysée ein, hätte dies weitreichende Folgen für die europäische Haltung im Ukraine-Krieg. Mit Frankreich im Westen und Ungarn im Osten der EU stünden zwei Mitgliedsstaaten auf der Seite Moskaus. Sowohl Le Pen wie auch Mélenchon haben zudem klar gesagt, dass sie die deutsch-französische Freundschaft schlicht aufkündigen würden.

Der Grund für die Nachsicht der französischen Wähler gegenüber der "Putinistin" Le Pen kann nur vermutet werden. Die Chefin des Rassemblement National (RN) versteckt ihre langjährige Nähe zu Kreml-Chef Wladimir Putin hinter Zemmour, der sich sogar einen "französischen Putin" gewünscht hatte. Die heute sehr moderat auftretende Extremistin ist Putin in Wirklichkeit noch enger verbunden: Vor der Präsidentschaftswahl 2017 hatte sie ihn im Kreml sogar persönlich besucht und ihm ihre "Bewunderung" ausgedrückt. Zudem steht sie in seiner Schuld: Von einer Kreml-nahen Bank erhielt sie einen "Kredit" über neun Millionen Euro, den sie bis heute nicht zurückerstattet hat.

Preissteigerungen im Fokus

Seit dem Massaker von Butscha hat sich Le Pen klar von Putin distanziert: Sie spricht von "Kriegsverbrechen" und ist – anders als Zemmour – für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge. Vor allem aber profitiert sie davon, dass der Wahlkampf heute ganz im Zeichen steigender Energie- und Nahrungsmittelpreise steht. Sie machen vor allem unteren Einkommenskategorien zu schaffen, und das sind in erster Linie Le-Pen-Wähler.

Dieser Umstand erklärt wohl, dass Le Pen nicht zurückgefallen ist, sondern im Endspurt noch zulegt. Und zwar stärker als Macron, Mélenchon und alle anderen Widersacher. Im Unterschied zu 2017, als sie in der Endrunde mit 34 Prozent klar gegen Macron verlor, werden der Rechts-außen-Politikerin dort jetzt 47 Prozent gutgeschrieben. Das ist nicht weit vom Ziel. Und das Erstaunlichste: Die meisten Franzosen zucken darob nur mit den Schultern. Vor fünf Jahren noch undenkbar, scheint Le Pens Sieg nun ähnlich möglich wie Donald Trumps Triumph 2016 in den USA.

Spät, aber dramatisch schlagen die Macronisten Alarm. "Natürlich kann sie gewinnen!", rief Ex-Premier Édouard Philippe; und Transportministerin Élisabeth Borne meinte: "Stellen wir uns einen Moment lang vor, Marine Le Pen wäre 2017 gewählt worden. Die Franzosen hätten russische und chinesische Vakzine bekommen. Und zur Heilung das umstrittene Hydroxychloroquin."

An der Populistin prallt das ab. Sie, die früher so laut wie ihr Vater Jean-Marie Le Pen schimpfte und giftete, gibt sich heute samtweich und geläutert, ohne je ihr Reizwort Immigration zu benützen. Macron dagegen, der Gentleman-Kandidat, zeigt nun Nerven und greift seine Gegnerin direkt an, indem er sie als "Clan-Erbin" bezeichnet und behauptet: "Sie belügt die Leute."

"Klare Dynamik" für Le Pen

Der Präsident folgt erneut seiner erprobten Strategie, ein Duell zwischen Le Pen und sich selbst zu konstruieren – auf der Überzeugung beruhend, dass sie von rechts außen nie auch nur in die Nähe der 50-Prozent-Schwelle kommen würde. Dieses politische Kalkül datiert allerdings von 2017. Jetzt hat die RN-Chefin laut den Umfragen für die Stichwahl von 34 auf die genannten 47 Prozent zugelegt. Die fehlenden drei Prozentpunkte sind in den kommenden zwei Wochen auch noch drin. Denn wie Laure Salvaing vom Umfrageinstitut Kantar Public sagt: Le Pen reitet derzeit auf einer "sehr klaren und soliden Dynamik". (Stefan Brändle aus Paris, 9.4.2022)