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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Außenbeauftragter Josep Borrell gedachten am Freitag in Butscha der Toten, die aus einem Massengrab exhumiert worden waren.
Foto: Reuters / Valentyn Ogirenko

"Für unsere Kinder" steht in russischer Sprache auf den Überresten einer Rakete geschrieben. Angesichts der Leichen, die rundherum die Straßen pflastern, ist dieser Schriftzug an Zynismus kaum noch zu überbieten. In Kramatorsk im Osten der Stadt schlugen am Freitag zwei solcher Raketen im Bahnhof ein. Von dort fliehen seit Tagen tausende Menschen in Richtung Westen. Wenig verwunderlich also, dass sich in der Zugstation zum Zeitpunkt des Einschlags viele Menschen befanden.

Die vorläufige Schreckensbilanz: Mindestens 39 Menschen wurden durch die Raketen getötet, mindestens weitere 100 erlitten Verletzungen. Russland bestreitet die Angriffe.

"Das grenzenlose Böse"

"Dies ist das grenzenlose Böse", schrieb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj via Twitter in einer ersten Reaktion, "und wenn es nicht bestraft wird, wird es nie aufhören." Russland warf er vor, die Zivilbevölkerung "zynisch zu vernichten". Gouverneur Pawlo Kyrylenko schrieb auf Telegram ebenfalls, dass absichtlich auf Zivilisten gezielt wurde: "Sie wollten so viele friedliche Menschen wie möglich als Geiseln nehmen, sie wollten alles Ukrainische zerstören."

Auch das US-Verteidigungsministerium machte die russischen Streitkräfte für den tödlichen Raketenangriff verantwortlich. Laut Pentagon-Sprecher John Kirby gehe man davon aus, dass "sie eine ballistische Kurzstreckenrakete genutzt haben". Der Angriff sei erneut ein Beispiel der russischen "Brutalität" und der "Sorglosigkeit" gegenüber der Zivilbevölkerung.

Die Gegenseite hingegen schob den Angriff der Ukraine in die Schuhe. Der eingesetzte Raketentyp werde nur von der ukrainischen Armee eingesetzt, erklärte das russische Verteidigungsministerium. Die prorussischen Separatisten gaben Ähnliches von sich. Die Stadt Kramatorsk mit ursprünglich rund 160.000 Einwohnern liegt in jenem Teil der Oblast Donezk, der von der Ukraine kontrolliert, aber von den prorussischen Separatisten beansprucht wird.

Fokus auf den Osten und Süden

Russland hatte jüngst angekündigt, sich bei seiner "Spezialoperation" künftig auf den Osten und Süden der Ukraine zu konzentrieren. Die ukrainischen Behörden hatten dementsprechend die dortige Zivilbevölkerung aufgerufen, sich in Sicherheit zu bringen – möglichst gen Westen.

Im Norden des Landes bewahrheiteten sich die Befürchtungen der ukrainischen Seite, dass sich Gräueltaten wie jene in Butscha auch in anderen Städten zugetragen haben könnten. Westlich von Kiew sind im Ort Makariw nach Angaben des Bürgermeisters 132 Zivilisten erschossen aufgefunden worden, die meisten davon in Massengräbern. Nordwestlich von Kiew in Borodjanka wurden nach dem Rückzug der russischen Truppen 26 Leichen aus Wohnblöcken geborgen, erklärte die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa auf Facebook. Wie viele Tote man noch in der Stadt entdecken werde, sei "unmöglich vorherzusagen".

Bereits Anfang der Woche erklärte Wenediktowa im ukrainischen Fernsehen, dass es "die schlimmste Lage mit zivilen Opfern" vermutlich in Borodjanka gebe. Auch Präsident Selenskyj ging davon aus, dass die Zahl der Toten in Borodjanka und anderen Städten um ein Vielfaches höher sei als in Butscha – dort wurden die Leichen von mehr als 300 Zivilisten entdeckt.

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Fragmente einer Rakete vom Typ Tochka-U, der sich im Bestand beider Kriegsparteien findet, vor dem Bahnhofsgebäude im ostukrainischen Kramatorsk.
Foto: AP / Andriy Andriyenko

Zentrum von Mariupol erobert

Im Fokus der russischen Invasion steht auch weiterhin die Hafenstadt Mariupol im Süden des Landes, wo ebenfalls Kriegsverbrechen befürchtet werden. Die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) geht davon aus, dass die russischen Streitkräfte "wahrscheinlich" in den kommenden Tagen die Eroberung von Mariupol abschließen könnten. Das russische Staatsfernsehen hatte berichtet, das Zentrum der Großstadt sei bereits eingenommen. In der Stadt seien aber noch rund 3.000 ukrainische Kämpfer, hieß es.

Weiter nördlich an der Grenze zu Russland haben ukrainische Truppen eigenen Angaben zufolge die gesamte Region Sumy zurückerobert. "Das Gebiet ist frei von Orks", sagte Regionalgouverneur Dmytro Schwyzkyj und nahm dabei ein ukrainisches Schimpfwort für russische Soldaten in den Mund. Allerdings warnte er die Bewohner vor einer raschen Rückkehr, da viele Gebiete noch vermint seien. In der Region Sumy und vor allem rund um die gleichnamige Stadt kam es in den vergangenen Wochen zu schweren Gefechten.

Abzug aus dem Norden beendet

Laut britischen Geheimdiensten hat Russland seinen Truppenabzug aus dem Norden der Ukraine abgeschlossen. Die US-Regierung geht davon aus, dass Moskau die Eroberung von Kiew endgültig aufgegeben habe. "Putin dachte, er könne sehr schnell das Land übernehmen, sehr schnell diese Hauptstadt einnehmen. Er hat sich geirrt", sagte Verteidigungsminister Lloyd Austin bei einer Senatsanhörung. "Ich glaube, Putin hat seine Bemühungen, die Hauptstadt einzunehmen, aufgegeben und konzentriert sich jetzt auf den Süden und Osten des Landes."

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Von der Leyen traf Selenskyj.
Foto: REUTERS/Janis Laizans

In ebenjener Hauptstadt der Ukraine fand sich am Freitag die EU-Spitze ein. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Außenbeauftragter Josep Borrell reisten vom polnischen Przemyśl per Zug an. Von der Leyen ist die erste westliche Spitzenpolitikerin, die seit Bekanntwerden der Kriegsgräuel im Kiewer Vorort Butscha die Ukraine besucht. Sie und Borrell besuchten gemeinsam mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal die Massengräber.

Von der Leyen kam mit einer Botschaft: "Normalerweise dauert es Jahre, bis der EU-Rat den Antrag auf Mitgliedschaft annimmt, aber die Ukraine hat das in ein oder zwei Wochen geschafft", sagt sie. "Unser Ziel ist es, den Antrag der Ukraine noch in diesem Sommer dem Rat vorzulegen." Später traf sie auch Selenskyj. Am Freitag trat außerdem das neue EU-Sanktionspaket in Kraft.

DER STANDARD

Nehammer unterwegs nach Kiew

Am Freitagabend hat sich Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) ebenfalls auf den Weg nach Kiew gemacht. Seine Ankunft ist für Samstagvormittag geplant. Auf dem Programm stehen Treffen mit Präsident Selenskyj, Premierminister Denys Schmyhal, Kiews Bürgermeister Witali Klitschko sowie ein Lokalaugenschein in Butscha.

Selenskyj hielt am Freitag noch eine Videoansprache an das finnische Parlament. Die Regierung in Helsinki will laut einem Bericht der Zeitung "Iltalehti" schon bald um einen Beitritt in die Nato ansuchen. Präsident Sauli Niinistö rechnet mit einer parlamentarischen Mehrheit für einen baldigen Antrag. Traditionell stehen die meisten Finnen einem Natobeitritt skeptisch gegenüber – jüngste Umfragen zeigten jedoch erstmals eine Mehrheit dafür. Grund dafür dürfte die russische Invasion in der Ukraine sein. Finnland hat eine 1340 Kilometer lange Landgrenze zu Russland.

Nato für Beitritt Finnlands

Erst am Mittwoch hatte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekräftigt, dass die beiden derzeit noch neutralen nordischen Länder Finnland und Schweden im Bündnis willkommen geheißen würden, sollten sie sich für einen Beitritt entscheiden. Auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte am Freitag bei einem Besuch in Finnland, er würde einen Nato-Beitritt des Landes unterstützen. (Kim Son Hoang, 8.4.2022)