Die Nachrichten werden von Tag zu Tag schrecklicher, die Bilder immer schockierender. Angesichts der unsäglichen Verbrechen, die das russische Regime in der Ukraine verübt, ist alles, was der Westen bisher getan hat, um dem Morden Einhalt zu gebieten, zu wenig. Eigentlich wäre jetzt der Augenblick für eine direkte Militärintervention der Nato wie einst in Bosnien und dem Kosovo gekommen – stünde nicht auf der Gegnerseite eine Atommacht, die einen Weltkrieg entfesseln kann. So bleiben den USA und der EU nur die weitere Bewaffnung der Ukraine und immer härtere Wirtschaftssanktionen. Doch auch bei den Sanktionen fährt Europa bisher mit angezogener Handbremse.

Bei einem russischem Anteil von 80 Prozent an der heimischen Gasversorgung wäre ein Boykott vor allem für die heimische Industrie schwer verkraftbar.
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Die beschlossenen Maßnahmen mögen beeindruckend wirken. Aber solange täglich fast eine Milliarde Euro nach Moskau fließt, um Öl- und Gasimporte zu bezahlen, ist ihre Wirkung beschränkt. Ein Ölboykott gilt zwar als machbar, weil es weltweit genügend alternative Lieferanten gibt; aber auch Russland könnte andere Abnehmer finden. Was wirklich schmerzt, ist ein Gasboykott. Doch dagegen wehren sich Deutschland und Österreich mit aller Kraft – aus gutem Grund.

Bei einem russischem Anteil von 80 Prozent an der heimischen Gasversorgung wäre ein Boykott vor allem für die heimische Industrie schwer verkraftbar. Kaum ein anderes Land hat sich in der Energieversorgung in eine so massive Abhängigkeit von Moskau begeben wie Österreich. Als Folge dieser Fahrlässigkeit sieht sich die türkis-grüne Regierung gezwungen, das zu blockieren, was Moral und Realpolitik eigentlich verlangen.

Ausfälle in den Lieferketten

Das ist eine inakzeptable Situation. Der Preis für einen Gasboykott ist hoch, aber der Preis, den die Ukrainer tagtäglich bezahlen, ist um vieles höher. Statt einfach Nein zu sagen, muss Wien gemeinsam mit Berlin nach Lösungen suchen, um einen Gasboykott umzusetzen, ohne dass die mitteleuropäische Wirtschaft zusammenbricht.

Dies ist nach Meinung vieler Fachleute möglich, denn nicht ganz Europa ist so abhängig von Russland wie wir. Die Heizsaison für die Haushalte ist bald vorbei, und für die Industrie und die Stromerzeuger müsste das in der gesamten EU verfügbare Gas so verteilt werden, dass nicht einzelne Länder oder Industrien ohne Gas bleiben. Es müsste auch dafür gesorgt werden, dass es nicht zu Ausfällen in den Lieferketten kommt, die weitere Sektoren lahmlegen würden. Und schließlich müsste jede verfügbare Energiequelle – und sei sie noch so ungeliebt – vorübergehend genutzt werden, etwa Kohle, Fracking-Gas oder vor kurzem stillgelegte Atomkraftwerke.

Das erfordert nicht nur eine EU-weite Solidarität, wie sie bisher meist an nationalstaatlichen Sonderinteressen gescheitert ist, sondern auch eine Lenkungswirtschaft, wie man sie eigentlich nur aus Kriegszeiten kennt. Aber der Krieg, den Wladimir Putin angezettelt hat, ist ein europäischer Krieg, auf den die EU geschlossen und entschlossen reagieren muss.

Österreich kann als reiches EU-Land einen etwas höheren Preis als andere Staaten zahlen, und das wäre bei einem Gasboykott sicher der Fall. Um die Bürgerinnen und Bürger für dieses Opfer zu gewinnen, müssten aber alle in Europa ihren Beitrag leisten. Die Alternative ist schlimmer: ein Krieg, der immer grausamer wird und am Ende doch in einen Militäreinsatz des Westens mündet. (Eric Frey, 9.4.2022)