Foto: BKA Tatic

Auf einen Boxkampf hatte sich Karl Nehammer auf seiner Reise nach Kiew nicht eingestellt. Als er am Samstagabend nach einem erschöpfenden Tag aber die beiden Klitschko-Brüder traf, war es so, als würde er einen Ring betreten – mit zwei der ehemals besten Boxern der Welt. Von zwei Seiten prasselten die Forderungen von Vitali Klitschko, dem Bürgermeister von Kiew, und seinem Bruder Wladimir auf den Kanzler ein, der sich selbst als Boxfan bezeichnet. Trotz Respekt und Anerkennung fürs Kommen musste der Besucher aus Wien wegen Österreichs Widerstand gegen ein Gasembargo harte verbale Schläge einstecken. Vor allem Wladimir, der fünf Jahre jüngere "Dr. Steelhammer", teilte zum Abschluss aus. Ein Gasembargo würde europäische Staaten sicherlich finanziell schmerzen, "aber wir hier bezahlen dafür mit Blut, nicht mit Geld".

Kanzler Nehammer zwischen knapp vier Metern Klitschko.
Foto: Fabian Sommavilla

Dieser Satz saß. Nehammer zeigte sich dennoch angetan vom Bruderpaar, die zu Symbolfiguren des ukrainischen Widerstands gegen die russischen Aggressoren geworden sind. "Einfach zwei klasse Burschen", sagte er gleich nach dem Treffen sichtlich beeindruckt, die schusssichere Weste noch offen am Körper baumelnd, bevor es im Spezialzug zurück nach Polen ging.

"Irrealer" Gasboykott

Im selben Zug hatte Nehammer noch am Vormittag – angesprochen auf ein mögliches Gasembargo – erklärt, dass die diesbezügliche Erwartungshaltung in Österreich oft "irreal" sei. Natürlich wolle er auch kein russisches Gas importieren, aber die Abhängigkeit lasse aktuell kein anderes Handeln zu. Sämtliche Analysen gäben das Szenario eines abrupten Ausstiegs nicht her, betonte Nehammer immer wieder. Auch Umweltschützer würden da oft raschere Vorgehen verhindern, ließ er durchblicken. Ein Boykott aber würde die italienische und deutsche Wirtschaft zerstören, so Nehammer; und er auch hierzulande zu großen wirtschaftlichen Verlusten führen.

Auch in Nehammers Brust kämpfen dabei wohl zwei Seelen gegeneinander: da die vorsichtig-rationale, die nicht bereit ist, die vielen unabsehbaren Risiken eines einseitigen europäischen Gasimportstopps einzugehen, dort die emotional-mutige, die einen radikalen Schritt in Richtung Erneuerbare und raus der Abhängigkeit wagt; die moralisch "richtige" Entscheidung, weil man Wladimir Putins Kriegsfinanzierung nachhaltig schaden könnte. Aber Nehammer ist nicht umsonst auch Parteichef einer konservativen Partei und trifft oft konservative Entscheidungen. Er setzt – wie mit dieser Reise – mitunter mutige Zeichen, aber der Typ für große Wagnisse ist er nicht. Und er macht keinen Hehl daraus, dass er eine abrupte Wende weg vom Fossilen für illusorisch, vielleicht sogar naiv hält.

Begegnung von Kanzler Karl Nehammer mit Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Foto: BKA Tatic

Das Böse und der Tod

Daran änderte auch jener Teil der Reise nichts, der den Kanzler sichtlich am stärksten berührte. Schon bevor er ukrainischen Boden betrat, schien er das zu ahnen, und sprach vom bisher "prägendsten Moment" seiner politischen Karriere. Das seien jetzt nicht mehr die Tage und Wochen nach dem Wiener Terroranschlag, sagte der Ex-Innenminister – und offenbar auch nicht der turbulente Aufstieg zum Kanzler. Das werde jetzt Butscha sein.

Gemeinsam mit Lokalpolitikerinnen besichtigte Nehammer im Kiewer Vorort ein Massengrab und einen vernichteten Straßenzug. 16 Panzer fanden dort dank panzerbrechender Waffen ihr Ende, 14 davon aus Russland – aufgehalten von jungen ukrainischen Soldaten, die angaben, ihre Fähigkeiten bei Computergames geschult zu haben.

In der Straße der Panzerschlacht in Butscha.
Foto: BKA / Dragan Tatic

Abseits des Blechschadens sind es aber vor allem hunderte Menschen, deren Leben hier erlosch. Es gebe kein Limit an schrecklichen Erfahrungen im Krieg. Und der Mensch ist wohl immer noch des Menschen Wolf, wird der Kanzler später dazu sagen.

Auch Nehammer hatte die Bilder der Kriegsverbrechen freilich schon zuvor gesehen, aber der Anblick in der Realität entfaltet noch mal eine andere Wirkung. Auch deshalb sind die Besuche von Regierungschefs so wichtig. Das wissen die Klitschkos, das weiß auch Präsident Wolodymyr Selenskyj, der Nehammer in die Ukraine eingeladen hatte. Der Kanzler hörte den Übersetzungen still zu, wünschte den Getöteten ihre Seelenruhe und winkte ab, als man ihm wegen des einsetzenden Regens einen Schirm anbot.

Der Kanzler entzündet eine Gedenkkerze in der St.-Andreas-Kathedrale wenige Meter vom Massengrab entfernt.
Foto: BKA / Dragan Tatic

Die Vereinten Nationen und die internationale Gerichtsbarkeit werden alles daran setzen, die Gräueltaten aufzuklären und die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, betonte Nehammer wiederholt, fast wie ein Hilferuf gegen die Ohnmacht. Auch werde man gemeinsam mit der EU helfen, "die Ukraine wieder aufzubauen" und diesen Worten schon bald auch Taten folgen lassen. 7,5 Millionen Euro werden jedenfalls in die Aufarbeitung des Butscha-Massakers fließen. Mehr als zehn Milliarden kamen bei einer EU-Geberkonferenz für die Geflüchtetenhilfe zusammen.

Aber auch Kanzler Nehammer kam nicht mit leeren Händen. Ins hermetisch abgeriegelte Präsidialamt brachte er die Zusage über die Lieferung von 20 Rettungsfahrzeugen und zehn Löschfahrzeugen sowie dringend benötigten Diesel mit. Das sei eine schöne Geste und eine wichtige technische Unterstützung, die sein Land dringend gebrauchen kann, sagte Selenskyj. Aber es ist halt dennoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Denn "all das wäre wohl nicht geschehen, wenn wir bessere Waffen zur Verteidigung hätten", sagte Oleksandr Pawljuk, Leiter der militärischen Staatsverwaltung in Kiew, als er zwischen ausgebrannten Panzern und Häusern von den Hinrichtungen im Nordwesten der Hauptstadt erzählte. Die vergewaltigten Frauen, die getöteten Kinder, die mit am Rücken zusammengebundenen Händen hingerichteten Männer – ihr Tod hätte vielleicht nicht sein müssen, wenn man früher mehr Waffen geliefert hätte. Dieser Appell schwang auch bei den Klitschko-Brüdern stets mit.

Lokalaugenschein in Butscha.
Foto: APA / Schütz

Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach am Samstag nach seiner Kiew-Reise davon, dass Sanktionen zwar wichtig seien, die Ukraine aktuell vor allem aber schweres militärisches Gerät brauche zur Verteidigung. Insgesamt 1,5 Milliarden Euro soll die EU nun dafür zur Verfügung stellen. Der britische Premier Boris Johnson, der am Samstag ebenfalls überraschend nach Kiew kam und mit Selenskyj durch die Stadt flanierte, sagte ebenso neue Waffen zu.

Europas Krieg in der Ukraine

Wer derzeit in die Ukraine reist, tut sich wahrlich schwer, die pazifistische Fahne hochzuhalten. Was mit Sandsäcken und improvisierten Barrikaden an neuralgischen Punkten wie Brücken entlang der Bahnstrecke beginnt und in die unzerstörten, aber verlassenen und barrikadierten Straßen Kiews übergeht, mündet nur wenige Kilometer außerhalb Kiews in totale Zerstörung und Massengräber – vom hart umkämpften Osten und Südosten des Landes ganz zu schweigen. Gleichzeitig versucht Russland, die Massengräber auf perfide Art als inszeniert darzustellen.

Nehammer vor einem Massengrab in Butscha.
Foto: Sergei SUPINSKY / AFP

Ob Österreichs politische Solidarität die militärische Neutralität angesichts des vergossenen Blutes gänzlich wettmachen kann, ist eine Debatte, die man wohl mit jedem weiteren russischen Verbrechen in diesem Angriffskrieg ernster diskutieren muss. Denn mit humanitären Hilfsgütern allein hätte die Ukraine diesen Krieg wohl schon verloren.

Nehammer selbst will aber auch nach Butscha und Co keine Sekunde an der vermeintlich österreichischen DNA – der Neutralität – gezweifelt haben. Die Klitschkos aber warnten Europa davor, dass man diesen Krieg schon bald auf dem eigenen Boden kämpfen müsse, wenn man ihn nicht Seite an Seite mit den Menschen in der Ukraine kämpfe.

Am Wiener Ballhausplatz aber setzt man weiter auf das EU-Sanktionsregime. "Solange ukrainische Menschen sterben, ist keine Sanktion genug", sagte Nehammer zu Selenskyj. Dennoch glaubt er, mit zielgerichteten EU-Sanktionen und Diplomatie dem Krieg eines Tages ein Ende bereiten zu können. Auch Selenskyj glaubt weiter an den Sieg. Sanktionen sind für ihn aber nur ein Teil seiner Strategie. (Fabian Sommavilla aus Kiew, 10.4.2022)