Bestsellerautor Karl Ove Knausgård ist zurück beim fiktionalen Erzählen. Die zartesten Stellen entwickelt er fernab vom Thrill wieder, wenn es um Familie geht.

Foto: Sølve Sundsbø

Weltberühmt gemacht hat den Norweger Karl Ove Knausgård sein sechsteiliges Romangroßprojekt, in dem er sein eigenes Leben zwischen Kindheit, Autorwerdung und dem Dasein als Vater und mäßig guter Ehemann auf 4.800 Seiten ausbreitet. Detailreich zoomte Knausgård ins eigene Privateste hinein, kam zugleich aber auch ins Philosophieren. Mit dem Aufzählen von Platten oder beim Warten auf den Bus in der Pampa fing er fantastisch ein Retrolebensgefühl ein. Seither sind vier Bücher über seine Kinder erschienen, aber die erweiterte Familie nahm ihm sein Ausschlachten des Privatesten teils unter Klagsandrohungen übel.

Inzwischen lebt Knausgård (53) mit seiner dritten Frau in London und setzt lieber nichts aufs Spiel. Fiktion tut dem Familienglück gut. Statt mit sich selbst und seinen Lieben hart ins Gericht zu gehen, lässt er in seinem neuen Buch Der Morgenstern deshalb eine Art Jüngstes Gericht dräuen. Als mystisch-religiöse Düstergeschichte kommt der fast 900 Seiten starke Wälzer daher. Man fühlt sich etwas an Alles hat seine Zeit von 2004 erinnert, für das Knausgård sich an alttestamentarischem Figurenpersonal und Mythenvorrat zwischen Gomorrha und Sintflut bediente. Der Morgenstern spielt an zwei Tagen im August, es ist der heißeste Sommer aller Zeiten, die norwegische Küste wird partiell von Krebsen und Kreuzottern heimgesucht, und der titelgebende Feuerball steht neu am Himmel.

Enttäuschung und Schwermut

Alle Figuren sind jedoch so in ihre Angelegenheiten verstrickt, dass sie ihn nur nebenbei zur Kenntnis nehmen. Der Literaturprofessor Arne hat mit den drei Kindern und der zunehmend psychotischen Ehefrau im Sommerhaus alle Hände voll zu tun. Wenn mal nicht, hält er gerne eine Flasche Bier in ihnen und denkt über sich selbst nach: "Tagsüber war etwas Hartes und Kantiges an dem, was in mir war", doch Wein macht diese Flächen "weich und feucht". Kathrine ist Pfarrerin und ihres Lebens mit Mann und Kindern überdrüssig, nach einer Dienstreise hängt sie ihrem Freiheitsdrang folgend eine Nacht in einem Hotel unweit von zu Hause an. Der zum Kulturjournalisten degradierte Kriminalreporter Jostein verachtet seine Arbeit und kompensiert das, indem er im üblichen Rausch der Malerin nachstellt, deren Bilder er lustlos besprochen hat. Seine Frau, eine Krankenschwester, klaut Pillen für den Eigenbedarf.

Neun Figuren entwirft Knausgård. Melancholie, Ernüchterung, Enttäuschung und Resignation plagen alle. In kürzeren Kapiteln springt Knausgård zwischen ihnen hin und her und fügt seine Geschichte aus den diversen Ich-Perspektiven zusammen. Jene gelingen dabei sehr unterschiedlich. Männerfiguren wirken generell plastischer und reflektierter als die Frauenperspektiven: Schöngeistige und philosophische Passagen zu Gott und Tod steuern vor allem Männer bei. Die weiblichen Hauptfiguren sind indes recht klischeehaft alle in Care-Berufen (Krankenpflege, Seelsorge) tätig. Wie zum Ausgleich für diese Einfallslosigkeit erleben sie mehr Action und Thrill.

Vaterschaft in der Krise

Die besseren und intensiveren Stellen sind aber die bedachteren. Besonders interessierte den Autor ganz offenbar das Thema Vaterschaft bzw. die Schwierigkeit, eine emotionale Verbindung zum Nachwuchs zu knüpfen. Nicht nur Arne geht es so, der als fühlender Mann zwischen Fürsorge, Selbstzweifeln und Verlorenheit im Ranking der Väter prinzipiell noch relativ gut aussteigt, auch wenn er unterwegs nicht ans Handy geht, wenn die Tochter anruft, weil er ihr "jetzt ohnehin nicht helfen" könnte. Der Dokumentarfilmer Egil, Sohn eines Reeders und für den Vater, von dessen Geld er lebt, eine Enttäuschung, findet noch weniger einen Draht zum eigenen Sohn, der seit der Scheidung bei der Ex-Frau lebt. Bemüht, doch widerwillig nimmt Egil ihn für ein paar Tage bei sich auf. Wir werden Zeuge zarter Annäherungsversuche.

Wie verhält sich diese Fiktion zur Autofiktion, die Knausgård berühmt gemacht hat? Auch wenn er mitunter schildert, wie ein Tab in den Geschirrspüler gelegt wird: So vom Erzählten aufgesogen wie in Spielen oder Lieben, die von der Fokussierung auf ein Bewusstsein vibrieren, wird man nicht. Doch schafft Knausgård Anklänge daran. Was es mit biblisch den Himmel verdunkelnden Marienkäfern und einem Toten, der wieder lebendig wird, auf sich hat, wird nicht aufgelöst. Das ist zu verkraften. Es geht ja um etwas anderes als das Ende der Welt: den einsamen Menschen in ihr. (Michael Wurmitzer, 11.4.2022)