Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto dringlicher, radikaler, verzweifelter werden die Appelle für eine kompromisslose Ausweitung der EU-Sanktionen gegen Russland.
Am weitesten geht dabei naturgemäß Wolodymyr Selenskyj. Der ukrainische Präsident spricht sich für ein abruptes Ende der Handelsbeziehungen zu Russland aus, umgekehrt für die Lieferung von Panzern und Raketen des Westens an sein Land. Dass weder EU noch Nato bereit sind, militärisch in den Krieg einzugreifen, um das Morden zu beenden, damit hat man sich in Kiew abgefunden.
Aber auch das EU-Parlament meldete Maximalwünsche an: sofortiges "vollständiges Embargo" für Einfuhren von Öl, Kohle, Kernbrennstoff und Gas aus Russland. 513 Abgeordnete stimmten dafür, gegen nur 22 Nein-Stimmen.
Schrittweises, abgeklärtes Vorgehen
In den USA und in Großbritannien, wo russisches Gas und Öl kaum benötigt werden, üben Kommentatoren scharfe Kritik am "Bremser" Deutschland. Wie Österreich war es bisher relativ stark von russischem Gas abhängig, hat es aber in vier Wochen geschafft, den russischen Anteil von 55 auf 40 Prozent zu reduzieren. Berlin tritt für ein nur schrittweises, mit EU-Partnern abgeklärtes Vorgehen bei Energiestrafmaßnahmen ein.
Die Aufregung darüber ist verständlich. Forderungen nach einem Gas- und Ölboykott, um dem russischen Präsidenten die Finanzierung seines Angriffskriegs abzuschneiden, klingen plausibel. Moralisch gerechtfertigt sind sie sowieso. Seit täglich neue Beweise von grausamen Verbrechen durch russische Soldaten dokumentiert werden, steigt der Druck zum Handeln.
Aber sind solche Forderungen, insbesondere nach dem sofortigen Gasboykott, auch vernünftig – für die Union als Gesamtes, nicht nur für die hauptbetroffenen Länder wie Deutschland oder Österreich oder Bulgarien, das zu hundert Prozent vom russischen Gas abhängig ist? Und könnten damit Putin und der Krieg bald gestoppt werden?
Stufenweise schärfere Maßnahmen
Daran sind größte Zweifel angebracht. Es ist kein Zufall, dass die EU-Kommission, die die Sanktionenstrategie für alle konzipierte, selbst vorsichtig ist. Sie setzt auf stufenweise schärfere Maßnahmen, die in 27 Staaten auch realistisch umgesetzt werden können, ohne die eigene Wirtschaft allzu sehr zu beschädigen oder gar soziale Not durch noch höhere Inflation zu vergrößern.
Am Beispiel Deutschland, dessen Industrie auch Rückgrat der gesamteuropäischen Binnenwirtschaft ist, lässt sich das gut zeigen. Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck sowie Vertreter der Unternehmensverbände ebenso wie Gewerkschaften weisen darauf hin, dass ein abrupter Gasstopp Schlüsselbereiche der Produktion lahmlegen könnte mit gravierenden Folgen, einem Dominoeffekt in den Lieferketten.
Die Folge wären noch höhere Inflation und der massenhafte Verlust von Arbeitsplätzen – keine gute Aussicht angesichts der politischen Polarisierung, wie man sie gerade in Frankreich sieht.
Am ehesten ließe sich noch russisches Öl einigermaßen rasch ersetzen. Es kann auf Schiffen aus anderen Teilen der Welt transportiert werden, so wie Kohle. Beim Gas dauert der Umstieg länger, viel zu lange, um den Krieg bald zu stoppen. Man sollte sich also nicht der Illusion hingeben, dass die Europäer mit der "Waffe" des Boykotts von Öl und Gas ihre Fehler der Vergangenheit kompensieren können. Das sind harte, bittere Wahrheiten, für die Ukraine und für uns. (Thomas Mayer, 10.4.2022)