Keine Fassaden und mehr Realtiät bei der SPÖ-Führung wünscht sich Psychologe Daniel Witzeling im Gastblog.

Das Entrée der Veranstaltung zur “Kanzlerin-Rede“ ist gediegen und von Seiten der SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner und ihrem Team durchaus durchdacht. Keine große Inszenierung wie bei Ex-Kanzler Sebastian Kurz, sondern nobles Understatement. Flankiert von fünf ehemaligen SPÖ-Kanzlern mit mehr oder weniger ergrautem Antlitz, schreitet Rendi-Wagner an ausgewählten Anhängern und Funktionären vorbei. Ob das Framing durch die ehemaligen Bundeskanzler ein gutes Omen ist, sei einmal dahingestellt. Die Vielleicht-bald-Kanzlerin wirkt jedenfalls reduzierter als bei alten, leicht affektierten Auftritten. Eine gewisse Routine und Stabilität sind eingekehrt. Rendi-Wagner will zweifelsfrei Kanzlerin sein.

Authentisch oder gekünstelt?

Motiviert durch zahlreiche demoskopische Erhebungen, wittert die SPÖ Morgenluft und steht in den Startlöchern, das Kanzleramt zurückzuerobern. Doch ist die stolze Sozialdemokratie reif genug, um diese Verantwortung zu übernehmen? Allein ein angeschlagener Gegner in Form der neuen alten ÖVP und desillusionierte Wähler sind zu wenig, um Österreich in eine bessere Zukunft zu führen. Schöne Bilder der Parteichefin beim Würstelstand oder im Arbeiterstrandbad sind im Selbstbild der SPÖ und ihrer Berater gut vermittelbar, machen aber für Außenstehende oft einen zwanghaft gekünstelten Eindruck. Man darf als Sozialdemokrat zu seinem Urlaub in Saint-Tropez stehen, ohne damit zwangsläufig an Glaubwürdigkeit einzubüßen. Im Gegenteil, es wirkt nicht authentisch und homogen, wenn man sich als etwas darstellt, was man tief in seiner Seele nicht ist.

Authentisch sind die Figuren der Seidl-Filme. In der SPÖ sind sie das weniger
Foto: Ulrich Seidl Film/APA

Ulrich Seidl der Meister der schonungslosen Realität

Während man sich den Film “Rimini“ von Seidl zu Gemüte führt und in sämtliche Tiefen und Untiefen menschlichen Lebens eintaucht, fällt einem wie Schuppen von den Augen, woran es der hiesigen Politik mangelt. Allen voran freilich jener Partei, die den im Film dargestellten Charakteren am nächsten zu stehen vorgibt, nämlich der SPÖ. Fakt ist, dass nicht viele in der Realität eines Christian Kern, eines Alfred Gusenbauer oder eben einer Pamela Rendi-Wagner leben. Das ist per se nicht schlimm. Jedoch so zu tun, als ob man ein intensiveres Naheverhältnis zu den einfacheren Leuten hat, weil man kraft des Netzwerkes der Bewegung vom Arbeiterkind in andere Sphären emporgestiegen ist, kommt bei all jenen, die die Gnade der parteipolitischen Protektion nicht genossen haben, gar nicht mal so gut an.

Wo sind die Personen wie der Schlagersänger “Richie Bravo“ aus dem Seidl-Film, die die Universität des Lebens absolviert haben, geblieben? Menschen, die alle Höhen und Tiefen authentisch erfahren haben? Gerade die SPÖ hat in ihrer Personalauswahl immer stärker den Bezug zu den Menschen, die aus der Lebenswelt des Ottonormalbürgers entstammen, verloren. Regisseur Seidl ist dagegen ein Virtuose derartige Persönlichkeiten auf die Leinwand zu projizieren. Dies ist ihm mit seinem neuen Film und der Darstellung des Charakters des Schlagerbarden “Richie Bravo“ mehr als gelungen. Bravo ist ein Star gewesen und nun in die Jahre gekommen. Er ist gezeichnet durch die Folgen eines jahrelangen Alkoholkonsums, dennoch hat er nie aufgegeben. Es geht um das Hinfallen und wieder Aufstehen im Leben. Das verschafft Respekt und ist authentisch. An diesen in Seidls Werk abgebildeten Schattierungen des Lebens und der Realitätsnähe mangelt es der SPÖ schon lange, was sich in den Führungspersonen manifestiert, die zumindest nach außen hin nicht von den Schattenseiten des Lebens gekennzeichnet zu sein scheinen.

Emotionale Resonanz in der Politik

In ihrer “Kanzlerin-Rede“ erklärte die SPÖ-Chefin sinngemäß, dass immer weniger Menschen die Komplexität der Welt verstehen. Das mag schon sein, es fragt sich jedoch, wer überhaupt in der Lage ist, diese je zu verstehen? Es kommt aber bei potenziellen Wählerschichten weniger gut an, wenn man zumindest Teile von ihnen als Personen definiert, die nicht in der Lage sind, die “Komplexität der Welt zu verstehen“. Diese Form der Bewertung und latenten Abwertung verstehen sogar jene, die scheinbar mit der Komplexität der Realität an ihre mentalen Grenzen stoßen. Spätestens beim nächsten Urnengang haben die Beschriebenen selbst die Chance die Beurteilung der SPÖ-Vorsitzenden wechselseitig in ihrem individuellen “Experten Rating“ in Form eines Kreuzerls zu quittieren. Hier ist die Figur des “Richie Bravo“ instinktiv intelligenter.

San Tropez Productions

Er weiß, dass sein Kapital die Emotion und das Gefühl sind und reziprok verhält es sich auf dem vermeintlich so komplizierten Feld der Politik. Menschen wollen respektiert und akzeptiert werden. So wie “Richie Bravo“ durch seine Lieder sein in die Jahre gekommenes Publikum durch Träume und Illusionen beglückt, geht es im politischen Wechselspiel zwischen dem Kandidaten einer Partei und den potenziellen Wählern um einen romantischen Akt der Wünsche und Hoffnungen. Hier sind kognitiv zu stark aufgeladene Themen und ein intellektueller Habitus kontraproduktiv. Genau da liegt die elementare Schwachstelle der SPÖ und ihrer Parteichefin. Etwas weniger dick als Expertin auftragen und etwas mehr Tiefstapeln und Bescheidenheit stünden der Bewegung und der Führungsperson gut an. Wer zu hoch pokert, kann am Ende viel verlieren.

Bravo mag für manche zwar am Boden seiner Existenz angelangt sein, aber er kämpft und steht immer wieder auf. “Einen Menschen mit seinen Schwächen zu zeigen ist interessanter als einen Helden ohne Makel“, sagt Seidl im STANDARD-Interview. Damit hat er recht. Die Sozialdemokraten versuchen ihre Chefin mit aller Energie als fachkundige Akademikerin ohne Defizite zu positionieren. Der Sachverhalt entspricht weder der Wirklichkeit noch kommt eine derartige Aufmachung bei den Wählern, die um die Schwierigkeiten des Seins aus ihrer Lebensrealität Bescheid wissen, gut an.

Vielleicht sollte sich die SPÖ-Führung sämtliche Werke von Seidl zu Gemüte führen, denn sie portraitieren verschiedene Facetten der österreichischen Seele. Abwehr und Verdrängung durch den Aufbau von menschlichen Fassaden sind keine Lösung. (Daniel Witzeling, 14.4.2022)

Weitere Beiträge des Bloggers