Impffeindlichkeit gibt es, seit es Impfungen gibt – immer schon haben Menschen dagegen agitiert. In ihrem Buch "Die Medizin und ihre Feinde" zeichnen der Journalist Herbert Lackner und der Onkologe Christoph Zielinski die Gründe dafür nach.

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Impfskepsis ist in Österreich ein altbekanntes Phänomen. Während Kaiserin Maria Theresia ebenso wie Johann Wolfgang von Goethe Anhänger der Pockenimpfung waren – die Kaiserin ließ sogar einen Impfversuch mit 100 Waisenkindern durchführen, keines davon starb –, waren der große Aufklärer Immanuel Kant und der Freiheitskämpfer Andreas Hofer klare Gegner. Kant sah es als Eingriff in die "Vorsehung", Hofer, unter dem Einfluss des Kapuzinerpaters Joachim Haspinger, bezeichnete die Impfung als "Einpflanzen ketzerischen Denkens".

Auch ein frühes Beispiel für ein prominentes Umdenken gibt es, Immanuel Kant änderte kurz vor seinem Tod seine Einstellung zur Pockenimpfung. Offenbar überzeugten ihn die klar messbaren Erfolge, die eine verbesserte Impfmethode – man ging von der Inokulation über zur deutlich sichereren Vakzination – mit sich brachte, von der Wirksamkeit der Immunisierung.

Doch warum lassen sich bis heute so viele Menschen nicht von den klaren Erkenntnissen der Wissenschaft überzeugen? Inwiefern trägt das System in Österreich zu dieser Skepsis bei? Und kann das Argument, ein gutes Immunsystem könne Krankheiten auch ohne Hilfe bewältigen, überhaupt stimmen? Diesen Fragen sind der Journalist Herbert Lackner und der Onkologe Christoph Zielinski in ihrem neuen Buch "Die Medizin und ihre Feinde" (Verlag Ueberreuter) nachgegangen. DER STANDARD hat nachgefragt.

STANDARD: Lässt sich kurz und knapp sagen, warum so viele Menschen wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber skeptisch sind?

Lackner: Diese Skepsis gegenüber Wissenschaft und neuen Erkenntnissen gab es immer, mit unterschiedlichen Begründungen. Früher waren die Motive vor allem religiös begründet, im Nationalsozialismus sprach man dann von der "verjudeten Schulmedizin". Erst nach 1945 gab es eine Phase, in der die medizinische Wissenschaft breit anerkannt war. Die Menschen wollten aufgrund vieler furchtbarer Krankheiten die beste Medizin, die besten Medikamente und die beste Versorgung. Damals sind viele Menschen an Infektionskrankheiten gestorben, die heute gut heilbar sind. Wichtige medizinische Fortschritte wie die Impfung gegen Kinderlähmung oder das "Wundermittel" Penicillin wurden gefeiert. Das wurde sogar in der zeitgenössischen Kultur aufgegriffen. Der in Wien spielende Film "Der dritte Mann" handelt nicht zufällig vom Penicillin-Pantschen. All diese Fortschritte haben die Menschen sehr für die moderne Medizin und die Wissenschaft eingenommen.

STANDARD: Was hat sich dann verändert?

Lackner: In den 1970er-Jahren und frühen 1980er-Jahren hat sich das wieder etwas umgedreht, nicht zuletzt weil die Pharmaunternehmen zu großen Konzernen wurden. Das hat zwar zu effektiverer Forschungstätigkeit geführt, aber die so entstandenen großen Industrieunternehmen boten ein Feindbild. Auch politische Parteien haben das aufgegriffen, etwa die damaligen Grünen. Die ehemalige Bundessprecherin Madeleine Petrovic, die jetzt bei Impfgegnerveranstaltungen auftritt, hat schon damals merkwürdige Positionen vertreten.

STANDARD: In anderen Ländern ist die Wissenschaftsskepsis deutlich niedriger als bei uns, das zeigt sich auch am Vertrauen in die Impfung. Wie kann man das erklären?

Lackner: Die Impfquote ist in den deutschsprachigen Ländern tatsächlich niedriger. Dafür gibt es verschiedene historische und topografische Gründe. Tatsächlich sagt heute ungefähr ein Drittel der Menschen laut Umfragen, Wissenschaft habe mit ihrem Alltag nichts zu tun. Und spielen gleichzeitig mit Handy und Laptop herum. Und sie gehen natürlich zum Arzt, wenn es ihnen nicht gut geht, und erwarten die beste Medizin.

STANDARD: Woran liegt das? Die Menschen in Österreich sind ja auch nicht ungebildeter als woanders ...

Lackner: Bei uns hat der Begriff des Hausverstandes einen sehr hohen Stellenwert. Hausverstand ist für viele Menschen genauso wichtig wie die Wissenschaft, ein Viertel der Bevölkerung glaubt sogar, er sei noch wichtiger. Wissenschaft sieht man als Sache der Eliten. Wissenschaft und Forschung machen sich wohl nicht ausreichend verständlich. Und auch die Boulevardpresse hat wohl dazu beigetragen, als sie über wissenschaftliche Inhalte fahrlässig berichtete, etwa zum Thema Gentechnik. Das führt bis heute dazu, dass man im Supermarkt Produkte mit der absurden Aufschrift "genfrei" findet.

Und es gibt in Österreich eine relativ große Partei, die gegen Wissenschaft und im speziellen Fall gegen deren Erkenntnisse zum Coronavirus agitiert. Das gibt es in anderen Ländern von so großen Parteien nicht.

STANDARD: Ein Thema, das die Skepsis sicher befeuert, ist ja auch das medizinische System. Es geht oft um rasche Diagnosen und Medikamente, die alles lösen sollen. Das vernachlässigt aber das Bedürfnis nach Zuwendung, nach Aufmerksamkeit. Diese holen sich dann so manche bei Energetikern, Kinesiologinnen und anderen. Muss man hier das System ändern?

Zielinski: Ja, da muss einiges passieren. Es ist natürlich so, dass die Spitäler überlastet sind. Das liegt auch daran, dass sehr viel von Primärversorgung aus dem niedergelassenen Bereich an die Spitäler verwiesen wird. Das Spital ist aber prinzipiell nicht für die Primärversorgung zuständig, dadurch bleibt wegen Überlastung nur wenig Zeit. Persönlich sehe ich hier ein großes Defizit, das sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Wobei das nicht an den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten liegt, sondern am System. In den vergangenen Jahren wurde verabsäumt, breitflächig zeitgemäße Primärversorgungszentren einzurichten.

Dazu kommt eine Methode der Vergütung seitens der Gesundheitskasse und der Sozialversicherungen, die die Kolleginnen und Kollegen richtiggehend dazu zwingt, möglichst viele in einer Zeiteinheit zu betreuen. Das Ergebnis macht dann die Ärztinnen und Ärzte genauso unzufrieden wie die Patientinnen und Patienten. Daraus folgt, dass viele Kolleginnen und Kollegen gar keine Kassenpraxen mehr haben wollen – es liegen ja ausreichend Kassenarztstellen brach. Das ist schon auch darauf zurückzuführen, dass mit dem jetzigen System Arbeitszufriedenheit nicht vorliegt.

Ich habe darüber sehr viel mit maßgeblichen Personen in der Gesundheitskasse gesprochen, dort besteht durchaus große Einsicht und exzellente Problemkenntnis. Doch ich habe den Eindruck gewonnen, dass auch diese Institutionen alleingelassen werden und Ansprechpartner in einer übergeordneten Einheit fehlen, sprich Finanzministerium, Gesundheitsministerium. Dort sollte, denke ich, ein sehr entschlossener Schritt gemacht werden, weil wir sonst mit der Zufriedenheit aller mit dem Gesundheitssystem nicht weiterkommen werden. Dieses wurde letztlich Jahrzehnte in weitgehend unveränderter Form und ohne wesentliche Anpassungen an die moderner werdende Gesellschaft und ihre Anforderungen belassen. Es hilft nicht weiter, wenn man in Anerkennung der Leistungen der Gesundheitsbediensteten auf dem Balkon klatscht – da muss schon mehr passieren.

STANDARD: Auch in der Ärzteschaft sind bei weitem nicht alle einer Meinung, das befeuert Skepsis schon auch. Was antwortet man da?

Zielinski: Wissenschaft ist ja nicht Wahrheit, sondern die Suche nach der Wahrheit. Das wiederhole ich immer wieder. Wir setzen ständig vorwärtsstrebende Schritte, und es kommen permanent neue, die Behandlung verbessernde Erkenntnisse dazu. Aber selbst in Bereichen, wo es theoretisch eine hundertprozentige Erfolgsrate geben könnte, erreichen wir diese in der Praxis nicht. Das lässt sich am Beispiel der HPV-Impfung gut zeigen, die tatsächlich einen außerordentlich hohen Schutz vor einigen Krebsarten, vor allem aber dem Gebärmutterhalskarzinom, herbeiführen könnte. Doch die infrastrukturelle Umsetzung ist komplex.

Es braucht viele zusammengesetzte Geschehnisse – die Generierung medizinischer Erkenntnisse, ihre Akzeptanz durch die Gesellschaft, aber auch ihre Finanzierung –, um daraus gesellschaftlich relevante Erfolge abzuleiten. Die Medizin ist als angewandte Wissenschaft viel komplexer geworden, als sie früher war. Das gilt auch für die Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die Methoden, die zum Erkenntnisgewinn führen und die Verbreitung des Erreichten.

STANDARD: Dieses komplexe Zusammenspiel wollen sich nicht immer alle antun, oder sie gehen einfach nicht gern zum Arzt. Aber gibt es gesundheitliche Probleme, die man mit Hausmitteln oder schmerzstillenden, entzündungshemmenden Medikamenten zumindest versuchen kann zu kurieren?

Zielinski: Ich glaube, mit diesen Methoden ist es in etwa so, als würde man am Motor eines modernen Autos etwas selbst reparieren. Sie können es schon probieren, aber ich glaube nicht, dass es sehr gut funktionieren wird. Früher ist das schon gegangen, da haben viele selbst herumgeschraubt. Diese früheren Autos ohne ABS oder die gesamte Elektronik können als Analogie für das frühere medizinische Wissen dienen. Mittlerweile sind die Dinge aber um vieles komplexer geworden, und es ist, glaube ich, sehr, sehr schwierig, mit einem Hausmittel oder allgemein bekannten Medikament größere, komplexere Krankheitsgeschehen zu behandeln.

Wenn Sie zum Beispiel bei einem fieberhaften Infekt Aspirin oder Mexalen nehmen, so tun Sie neben der Fiebersenkung eigentlich nichts anderes als die hippokratische Forderung nach dem Gleichgewicht der Säfte herbeizuführen. Sie machen sozusagen einen unblutigen Aderlass, aber sie kurieren nicht die Erkrankung. Man muss schon immer wieder hinterfragen, wie sich die Medizin entwickelt, was da genau passiert und mit welchen Methoden Erkenntnisse noch exakter herbeigeführt werden können. Diesen Zugang haben nicht alle, aber auch nicht die Möglichkeit dazu, sich an einem solchen Erkenntnisgewinn zu beteiligen. Dass eine Anwendung solcher Erkenntnis gelungen ist, sehen wir darin, dass wir mittlerweile für sehr viele und gravierende Probleme exzellente Medikamente haben. Man sieht das zum Beispiel an der Krebssterblichkeit, die – auch wegen der Verfügbarkeit exzellent wirksamer Medikamente – in den vergangenen Jahren konstant zurückgeht.

STANDARD: Ein immer wieder gehörtes Argument im Zusammenhang mit der Corona-Impfung ist, man habe ein sehr gutes Immunsystem, man brauche die Impfung nicht. Wie "stark" kann ein Immunsystem überhaupt sein?

Zielinski: Das Immunsystem ist grundsätzlich weder "stark" noch "schwach". Es ist darauf angelegt, zwischen "fremd" und "eigen" zu unterscheiden, und bedient sich dafür eines Geflechts weißer Blutkörperchen, die direkt oder über Botensubstanzen miteinander kommunizieren und deren Funktion letztlich darin mündet, dass gewisse Zellen Mikroorganismen zerstören oder als Ergebnis der erwähnten Zellinteraktion Abwehrstoffe, die Antikörper, entstehen, die solche Mikroorganismen eliminieren. Es gibt angeborene, messbare und nachweisbare Immunmangelerkrankungen, die wegen der Hilflosigkeit des Organismus, sich gegen Mikroorganismen zu wehren, in höchstem Maße gefährlich sein können. Diese erfordern oft sehr entschlossene Therapiemaßnahmen. In analoger Weise benützen wir eine medikamentöse Unterdrückung der Funktion des Immunsystems dazu, dass Organtransplantate, die sonst als "fremd" erkannt werden würden, nicht abgestoßen werden und somit funktionsfähig bleiben.

Auf der anderen Seite des Spektrums kennen wir auch "Überreaktionen" des Immunsystems bei Erkrankungen – den Autoimmunkrankheiten, als Ergebnis bestimmter medikamentöser Eingriffe, bei denen wir das Immunsystem stimulieren, Tumorzellen abzustoßen, oder eben auch bei Covid-19. Solche Überreaktionen können lebensgefährlich sein. Als Konsequenz muss das Immunsystem in seiner Funktion zum Beispiel durch Cortison, das auch bei Covid-19 zum Einsatz gelangt, unterdrückt werden.

Die Argumentation des "guten" Immunsystems, das vor Infektion schützen könne, erfasst daher die Problematik weder richtig noch umschreibt sie sie korrekt. Natürlich können wir dem Immunsystem in seiner Wirksamkeit therapeutisch oder prophylaktisch "nachhelfen": In der Krebstherapie geschieht das mit der passiven Zufuhr einer hohen, vom Körper unproduzierbaren Konzentration von Antikörpern, die gegen bestimmte Tumoren wirken. In der Verhütung von Infektionen leisten diese Aufgabe des Schutzes Impfungen, die auch bei Covid-19 zum Einsatz kommen. Einen wissenschaftlich nachvollziehbaren Grund, deren Effektivität infrage zu stellen, der über Meinung hinausgeht, sind deren Gegner bisher schuldig geblieben. (Pia Kruckenhauser, 24.4.2022)