Vorbei scheinen die Tage eines starken kollektiven Abwehrreflexes gegen rechts. Emmanuel Macron muss in der Stichwahl gegen Marine Le Pen stärker um seine Wiederwahl kämpfen als früher.

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Amtsinhaber Emmanuel Macron trifft wie schon 2017 in der Stichwahl um die französische Präsidentschaft auf seine Rechts-außen-Rivalin Marine Le Pen. Anders als vor fünf Jahren dürfte dieses Rennen knapp werden. Denn während die Stimmenreserven für Emmanuel Macron seither geschrumpft sind, sind sie für Le Pen gewachsen, erklärt der französische Politologe und Meinungsforscher Thomas Vitiello von der Pariser Elite-Universität Sciences Po im STANDARD-Gespräch.

STANDARD: Die Fans von Marine Le Pen wittern nach dem ersten Durchgang ihren Sieg so nah wie nie zuvor. Ist sie die große Gewinnerin des ersten Wahlsonntags?

Vitiello: Ja, denn sie hat trotz der Konkurrenz von Rechtsaußen in Gestalt von Eric Zemmour, der immerhin sieben Prozent abgestaubt hat, mehr als 23 Prozent der Stimmen bekommen und ist damit in der Stichwahl. Wenn man alle Kandidaten der nationalistischen und identitären Rechten in Frankreich zusammenzählt – dazu gehört neben Le Pen und Zemmour auch Nicolas Dupont-Aignan – , dann kommt man auf 32 Prozent der Stimmen. Jeder Dritte hat also für eine Kandidatin oder einen Kandidaten der extremen Rechten gestimmt. Das ist ein Plus von fünf Prozentpunkten gegenüber 2017. Auch das stärkt Le Pen den Rücken für den zweiten Wahlgang.

STANDARD: Ist es richtig von einem Rechtsruck Frankreichs zu sprechen?

Vitiello: Da gilt es zu differenzieren: Untersuchungen über einen langen Zeitraum zeigen, dass die Franzosen grundsätzlich einen interventionistischen Staat befürworten. Das ist eine linke Forderung. Kurzfristige Abweichungen von dieser Tendenz gibt es zwar immer wieder, diese hängen aber stark von der amtierenden Regierung ab. Sind die Linken an der Macht, werden Forderungen nach weniger staatlicher Einmischung in der Wirtschaft laut. Sind die Rechten an der Macht, ist es umgekehrt. Angesichts der Covid-Pandemie und Macrons rechter Wirtschaftspolitik der vergangenen fünf Jahre sehen wir derzeit vermehrt Indizien, dass die Franzosen sich mehr Regulierung der Wirtschaft durch Staat wünschen. Das spricht also gegen die These eines Rechtsrucks. Auch bei gesellschaftlichen Themen wie Homosexualität oder religiöser Pluralität wird Frankreich auf lange Sicht toleranter. Aber wir beobachten derzeit eine erhöhte Beschäftigung mit Identitätsfragen: Einige beklagen das Fehlen eines kollektiven Projekts oder dass die Franzosen "ihren Boden verloren" hätten. Das ist kein unwesentlicher Teil der Wählerschaft und erklärt die Unterstützung für Zemmour, der Le Pen herausgefordert hat, ohne ihr Stimmen wegzunehmen. Es ist aber dennoch kein struktureller Rechtsruck.

Thomas Vitiello, geboren 1985, forscht an der Pariser Uni Sciences Po.
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STANDARD: Warum hat die Putin-Nähe nur Zemmour geschadet, nicht aber Le Pen?

Vitiello: Zemmour trat als der deutlich extremere Kandidat auf. Das hat Marine Le Pen dabei geholfen, ihr vormals radikales Image abzustreifen. Über ihre Beziehungen zu Russland, den Präsidenten Wladimir Putin und den Ukraine-Krieg hat sie sich im Wahlkampf zurückgehalten. Generell hat sie große Auftritte gescheut, ist stattdessen durchs Land gereist und hat auf eine lokale Mobilisierung der Basis gesetzt. Dabei hat sie die sinkende Kaufkraft zu ihrem Kernthema gemacht, jenes Thema, das für die meisten Franzosen das wichtigste in diesem Wahlkampf war. Damit ist es ihr gelungen, sich für einen Teil der Wählerschaft als glaubwürdige Alternative zu Macron zu präsentieren.

STANDARD: Ist Marine Le Pen tatsächlich moderater geworden?

Vitiello: Nein, sie hat nur ihr Image verändert, nicht aber das Programm. Dieses ist seit zehn Jahren ganz im Stil der französischen extremen Rechten. Bei Wirtschaftsthemen liberal: Le Pen tritt für eine geringere Einmischung des Staates in wirtschaftlichen Belangen und eine geringere Besteuerung von Unternehmen und Erbschaften ein. Zugleich soll das Rentenalter nicht angehoben und der Sozialstaat gestärkt werden. Allerdings sollen nur französische Staatsbürger davon profitieren können, während die Immigration gebremst werden soll. Die sogenannte Entteufelung ihrer Partei, des Rassemblement National, schreitet dagegen schleichend voran: Es begann vor zehn Jahren mit der Übernahme der Parteiführung durch Marine Le Pen von ihrem antisemitischen Macho-Vater Jean-Marie. Zuletzt half eben auch die Kandidatur des rechtsradikalen Zemmour dabei, einen zentristischen Anschein zu erwecken.

STANDARD: Wem hat die Stimmenthaltung von rund 26 Prozent geschadet?

Vitiello: Die Wahlbeteiligung ist zwar niedriger als bei den zwei Präsidentschaftswahlen davor, dennoch ist die Enthaltung im internationalen Vergleich nicht besonders hoch. Da die Nichtwähler eher Junge und Menschen aus sozial schwachen Milieus sind, hätten wohl der Linke Jean-Luc Mélenchon und Le Pen von einer höheren Beteiligung profitiert. Denn bei dem ersten Wahldurchgang hat sich gezeigt, dass die Jungen vor allem Mélenchon wählen, und jeder dritte Angestellte und Arbeiter für Le Pen gestimmt hat.

STANDARD: Bei der Stichwahl 2017 haben sich die Reihen des linken und bürgerlichen Lagers in einem Abwehrreflex gegen Rechts geschlossen. Wie stehen diesmal die Chancen für einen Durchmarsch Macrons?

Vitiello: Macron ist auch diesmal Favorit für die Stichwahl, aber das Rennen wird deutlich knapper. Denn Macron hat eine geringere Stimmenreserve als vor fünf Jahren, als die Wähler des konservativen Kandidaten François Fillion in Scharen für ihn stimmten. Dort ist heuer nicht viel zu holen. Die entscheidende Unbekannte ist die Wählerschaft Mélenchons. Die wählt zwar eher Macron als Le Pen, aber es bleibt unklar, wie viele es sein werden. 2017 hatte rund die Hälfte seiner Wähler für Macron gestimmt, und nur sieben Prozent für Pen. Diesmal zeigen die Umfragen, dass nur 35 Prozent von Mélenchons Wählern gewillt sind, Macron zu wählen.

STANDARD: Wie werden Macron und Le Pen um diese Stimmen werben?

Vitiello: Die Mobilisierung von Mélenchons Stimmreserven ist sowohl für die Wiederwahl Macrons als auch für Le Pen entscheidend. Beide werden versuchen, sich Mélenchons Themen, etwa soziale Gerechtigkeit, anzueignen. Schon am Wahlabend positionierte sich ein Berater Le Pens in der Ukraine-Krise wie Mélenchon und forderte einen neutralen Status für das Land und sprach sich gegen Waffenlieferungen aus. Überhaupt wird der Ukraine-Krieg einen wichtigeren Platz im Wahlkampf einnehmen, anstatt ihn bloß zu überschatten. Denn sie bietet Macron Angriffsflächen bei Le Pen, die lange als Putin-Fan galt. Wir werden auch auf beiden Seiten eine Schmutzkübelkampagne sehen. Le Pen wird versuchen, Macron wegen seiner sozialen Kälte und dem harten Vorgehen der Polizeikräfte bei den Gelbwesten-Protesten anzupatzen. In Frankreich sagt man: "Im ersten Wahlgang wird gewählt, im zweiten wird eliminiert." Das heißt, der weniger Schlimme wird gewählt.

STANDARD: Sind die traditionellen Parteien, die Sozialisten und die Konservativen, tot?

Vitiello: Auf nationaler Ebene ja. Sie schaffen es nicht mehr, Kandidaten hervorzubringen, die nachhaltig erfolgreich sein können. Auf lokaler Ebene funktionieren die Strukturen aber noch, da haben diese Parteien viele Abgeordnete, ein großes Netzwerk und Finanzierungsmöglichkeiten. Es ist seltsam; als ob wir zwei politische Sphären hätten, die immer weniger miteinander verbunden sind. (Flora Mory, 12.4.2022)