
Die Grünen-Politikerin Anne Spiegel trat am Montag als deutsche Familienministerin zurück.
Wenn Frauen in der Spitzenpolitik und in Machtpositionen etwas falsch machen, kann man diesem Gedankenexperiment nur schwer widerstehen: Was wäre, wenn es ein Mann gewesen wäre? Andere sind derweil von sich überzeugt, dass für sie nur die Fakten zählen – das, was war – und sicher nicht, ob da eine Frau oder ein Mann was vermurkst hat.
Das ist löblich, aber schlichtweg nicht möglich. Männer in Machtpositionen sind seit Menschengedenken eine Selbstverständlichkeit und Frauen in ebendiesen noch ziemlich neu. Ihre Fehler oder auch ihre Leistungen völlig losgelöst von dieser Tatsache zu bewerten, das geht gar nicht.
Besonders interessant ist dieses Gedankenexperiment vor dem Hintergrund des gestrigen Rücktritts der Grünen Bundesfamilienministerin Anne Spiegel in Deutschland. Im Sommer 2021 kam es in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zu einer Flutkatastrophe, die 134 Menschen das Leben kostete. Anne Spiegel leitete damals das Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie und Mobilität Rheinland-Pfalz – und fuhr nur zehn Tage nach der Katastrophe mit ihrer Familie für vier Wochen nach Frankreich, wie nun rauskam. Unterbrochen wurde der Urlaub nur von ein paar beruflichen Terminen, wobei sie erst behauptete, sie hätte sich auch zu den Kabinettssitzungen zugeschaltet, in ihrer persönlichen Erklärung von Sonntagabend aber Gegenteiliges sagte. In dieser bemerkenswerten Erklärung nannte sie ihre Entscheidung von damals schlicht einen "Fehler".
"Schwere Abwägung"
Wir könnten nun noch zusätzlich das Gedankenexperiment anstellen, wie der Umgang nicht nur eines männlichen, sondern eines männlichen österreichischen Politikers mit einem Fall wie diesem wohl wäre. Anders ist ein Hilfsausdruck. Anne Spiegel trat am Tag nach ihrer Erklärung und öffentlichen Entschuldigung zurück.
Ob der Druck, zurückzutreten, auch bei einem männlichen Politiker so groß würde, dass er gehen muss? Schwer zu sagen, denn das hängt von vielen Aspekten ab, etwa, ob gerade Wahlen anstehen. Dann gäbe es wohl auch für Politiker ein Risiko. Kaum Risiko gibt es allerdings für sie, wenn sie sagen würden, was die 41-jährige Politikerin in ihrem Statement sagte: "Es war für mich eine sehr schwere Abwägung, die ich mir nicht leicht gemacht hatte zwischen meiner Verantwortung als Ministerin und der Verantwortung als Mutter mit vier Kindern, die noch klein sind und die nicht gut durch diese Corona-Pandemie gekommen sind." Spiegels Mann hatte 2019 einen Schlaganfall und sollte Stress vermeiden, sagte Spiegel in ihrem Statement weiter. Sie wollte so ihre Entscheidung für den Urlaub erklären – aber nicht entschuldigen. "Es war zu viel. Das hat uns als Familie über die Grenze gebracht", sagte Spiegel.
Bei der Wahrnehmung dieser Sätze tun sich Krater auf, je nachdem, ob sie eine Politikerin oder ein Politiker ausspricht. Über Anne Spiegel hieß es angesichts dieses Satzes zuhauf sinngemäß, da hätte sie sich halt überlegen müssen, ob sie dieses Amt ausüben kann.
Warum sind diese Sätze, die Spiegel sagte, für eine Politikerin vernichtend und für Politiker nicht? Weil sie allein durch ihr Politikerinnendasein dafür steht, als Frau in die Sphäre der Macht, oder einfach nur in die Berufswelt "einzudringen". "Machthungrig", dieser Begriff fällt in der "FAZ" schon gut eine Stunde nach Spiegels Rücktritt. Wenn es ihrer Familie bei all den beruflichen Ambitionen – warum auch immer – nicht gutgeht, dann hat sie ihre Familie im Stich gelassen. So sieht das für viele dann aus. Umso erstaunlicher, dass Spiegel offen sagte, dass ihre Kinder nicht gut durch die Pandemie gekommen seien. Wenn es Kindern nicht gutgeht, sind allein die Mütter schuld – ist auch noch immer so.
Ein Politiker hingegen würde wahrscheinlich als heldenhaft dastehen, wenn er seinen wichtigen Posten zurückstellt, um sich um seine kranke Frau und die Kinder zu kümmern. In den Bereich der Familie zu gehen, das ist nicht "machthungrig", sondern liebevoll – Punkt für ihn.
Wie sieht Verantwortung aus
Spiegels Erklärung wirft auch abseits von dem Gedankenexperiment wichtige Fragen auf: Was bedeutet Verantwortung? Was erwarten wir von Politiker:innen? Vielleicht ging es angesichts dieses Videos anderen ähnlich. Dieses Ringen, das offene Aussprechen, dass es für ihre Familie nicht mehr ging, oder auch die klare Andeutung, dass sie zu viel übernommen hatte – das erzeugt den Impuls: So jemand kann halt nicht in der Politik sein.
Andererseits: Ist die allglatte Fassade, die hohlen Sätze, das geschickte Umschiffen – ist das, was wir bei schwerwiegenden Verfehlungen von Politiker:innen so oft hören, wirklich besser? Oder sind wir es nur so gewohnt, dass es inzwischen schon als professioneller und nachvollziehbarer Umgang mit Fehlern durchgeht? Das sollte es nicht. Ebenso sollte es endlich ein Ende haben, sich zwischen der Verantwortung dem Job gegenüber und dem privaten Umfeld entscheiden zu müssen.
Wir brauche keine alleinigen Anführer, die 365 Tage im Jahr da sind. Wir brauchen Kooperation, Zusammenarbeit und Unterstützung für alle, die sich kümmern müssen und auch kümmern wollen. (Beate Hausbichler, 12.4.2022)