Wie viel kollektiver Verzicht möglich wäre, zeigten die ersten Lockdowns in der Corona-Pandemie, sagt der Philosoph Felix Pinkert im Gastkommentar.

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Höhere Energiepreise bedeuten für Ärmere unzumutbaren Verzicht.
Foto: Getty Images / Dominik Pabis

Kohle, Öl oder doch endlich auch Gas – auf welche russischen Energieträger Europa verzichten soll, ist eine dauerhafte Streitfrage zwischen europäischen Ländern. Hier stellt sich uns konkret die ethische Frage, ob wir bereits genug tun oder ob nicht doch mehr Verzicht von uns verlangt werden kann.

Oft wird dabei seitens Österreichs und Deutschlands vorgebracht, ein Totalverzicht würde uns mehr wirtschaftlichen Schaden zufügen als Russland. Dieser Fokus auf den relativen Schaden ist aber fehlgeleitet: Sinn eines Totalverzichts wäre ja nicht, am Ende besser dazustehen als Russland, sondern für Russland derart hohe wirtschaftliche Kosten zu erzeugen, dass der Krieg für Russland nicht mehr tragbar ist. Ob diese Kosten nun höher oder niedriger als die von uns getragenen Kosten sind, ist dabei nebensächlich – relevant ist nur, ob wir unsere Kosten nachhaltig tragen können. Denn, so sagen wir oft in der Ethik, "Sollen impliziert Können": Man kann nur zu dem ethisch verpflichtet sein, was man auch praktisch tun kann.

Die aktuelle Debatte über die Tragbarkeit von Kosten leidet dabei an einer Ganz-oder-gar-nicht-Logik: Nur weil Deutschland und Österreich große Schwierigkeiten hätten, umgehend überhaupt keine Gaslieferungen mehr aus Russland anzunehmen, bedeutet das ja nicht, dass ein teilweiser Verzicht, etwa durch deutliche Reduktion der Gaslieferungen, unmöglich oder untragbar ist. Und hier ist noch viel Platz nach oben: Bisher kommt der Druck zum Verzicht bei Firmen und Verbraucherinnen wie Verbrauchern in Form von starken Preiserhöhungen an, aber noch nicht in deutlichen qualitativen Verhaltensänderungen.

Zu viel verlangt?

Um zu verdeutlichen, wie viel weiterer Verzicht noch möglich wäre, hilft der Vergleich zu den ersten Corona-Lockdowns: Noch sehen wir keine leeren Straßen, weil kaum noch jemand Auto fährt, noch heizen wir Büros, statt wieder im Homeoffice zu sitzen, noch fliegen wir in den Osterurlaub oder auf Dienstreisen oder machen Sonntagsausflüge mit dem Auto. Angesichts der Zerstörung und des Leids, das Menschen in der Ukraine angetan wird, wäre es von uns nicht zu viel verlangt, uns in diesen Aspekten unseres Energieverbrauchs ähnlich wie während der Lockdowns zu beschränken. Die unmittelbare Dringlichkeit des Verzichts, die zu Beginn der Corona-Pandemie ernst genommen wurde, ist in unserem Verhalten noch zu vermissen. Dem Ernst der Lage in der Ukraine ist unsere Reaktion – und Verzichtwilligkeit – ethisch noch nicht angemessen.

Freilich steht es jeder und jedem von uns frei, individuell mehr Verzicht zu üben – nach dem Motto "Kaltduscher gegen Putin". In der politischen Diskussion steht aber auch kollektiver Verzicht zur Debatte, etwa durch ein politisch verordnetes Energieembargo. Solch kollektives Handeln ist wichtig, da rein individueller Verzicht schnell an seine Grenzen stößt – ich kann etwa nur dann auf Dienstreisen verzichten, wenn mein Arbeitgeber mitspielt, und allein in einer nur minimal geheizten Wohnung zu sitzen kann sich schnell sinnlos anfühlen.

Forderungen nach einem drastischen kollektiven Verzicht auf russische Energie rufen die begründete Sorge hinsichtlich noch stärkerer Teuerung auf den Plan. Bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, dass Teuerung nicht per se ethisch problematisch sein muss. Wenn eine starke Teuerung von Energieträgern dazu führt, dass Firmen wie Verbraucherinnen und Verbraucher deutlich sparsamer werden und ihr Verhalten qualitativ so anpassen, dass sie weniger verbrauchen, ist das zunächst eine gute Sache: Das Signal des höheren Preises vermittelt, dass das entsprechende Gut knapper ist, und es wird entsprechend weniger und anders konsumiert. Deshalb ist auch ein direktes Gegensteuern zur Preiserhöhung, wie etwa allgemeine Steuersenkungen auf Energie, kontraproduktiv: Dadurch, dass man Gas wieder billiger macht, gibt es ja nicht plötzlich beliebig mehr davon.

Frage der Lebensqualität

Unzumutbar ist hingegen, wenn Menschen durch die Teuerung ernsthafte wirtschaftliche Bedrängnis oder gar Armut erleiden. Ohne solidarische Ausgleichszahlungen bedeutet mehr kollektiver Verzicht gerade für Menschen mit geringem Einkommen einen disproportional hohen und oft unzumutbaren Verzicht. Denn Verzicht ist schlussendlich nicht eine finanzielle Kategorie, sondern eine Frage der materiellen Lebensqualität: Wie viel Verzicht eine gegebene Preiserhöhung für eine Person darstellt, hängt ganz davon ab, wie viel Geld sie insgesamt zur Verfügung hat. Kollektiv Verzicht einzufordern und diesen fair zu verteilen muss also bedeuten, finanzielle Belastungen stark ungleich, entsprechend der Finanzkraft der Betroffenen, zu verteilen.

In der Praxis ist dies machbar durch ausgleichende Maßnahmen wie etwa den kürzlich beschlossenen einkommensabhängigen Energiekostenausgleich, der noch deutlich erhöht werden müsste. Wie schon beim Klimabonus ist hier die Logik, durch Preiserhöhung entstandene Mehrkosten bei konstanter Konsummenge auszugleichen, sodass in der Summe kein finanzieller Verlust entsteht. Zugleich bleibt der Preis aber erhöht, was den Anreiz erhält, weniger zu konsumieren, also zu verzichten.

Wir haben es also in der Hand, durch weiteren, deutlicheren Verzicht auf russische Energie entschiedener für Frieden einzustehen und uns mit Ukrainerinnen und Ukrainern zu solidarisieren und zugleich die damit verbundenen Kosten sozial und fair zu verteilen. Ein so verstandener und gestalteter kollektiver Verzicht ist ethisch zumutbar und entsprechend dem Ernst der Lage auch ethisch geboten. (Felix Pinkert, 12.4.2022)