Le Brelin ist der spektakulärste und weitaus größte Appartementkomplex in Les Menuires.

Foto: Harald Sager

Typisch französischer Zentralismus: Im Jahr 1964 verkündete die Regierung den "Plan Neige", den Schnee-Plan zur Erschließung der Alpen für den Wintertourismus. Denn zum einen hatte die Landflucht die Alpentäler erreicht, zum anderen sollte der Skisport demokratisiert, sprich massenhaft verbreitet werden. Also hielt man Ausschau nach großen Flächen hoch oben in den Bergen, die sich zu Skigebieten ausbauen ließen, und wurde dabei unter anderem in der Vallée des Belleville im Département Savoyen fündig.

In dem Hochtal gab es bereits früh zarte Ansätze von Tourismus, seit es in den Fünfzigerjahren an Fließwasser und Strom angeschlossen worden war. Aber die Straße endete in der Ortschaft Saint-Martin-de-Belleville, weiter oben standen nur einzelne Almhütten für die Bauern, die in der warmen Jahreszeit ihre Rinderherden hüteten und das Heu machten. Ihnen kaufte man erst einmal die ausgedehnten Almen ab, wo dann auf gut 1850 Metern der Ort Les Menuires hochgezogen wurden.

"Bergmine"

Das Wort "menuire" steht im Patois, der savoyischen Mundart, für "Bergmine". Die Talbewohner bauten am Standort jahrhundertelang Kohle ab – nur für den Eigenbedarf, nicht als Gewerbe. Im Heimatmuseum in Saint-Martin wird ihre selbstversorgerische Lebensweise nachgezeichnet. Mit dem Hereinbrechen des Tourismus änderte sich das allerdings drastisch. Die Menschen im Tal wurden zu Restaurantbetreibern oder Skiliftmechanikern.

Der "Schnee- und Himmelsturm" (Tour Neige et Ciel) links und Les Lauzes (benannt nach der Region) rechts waren die ersten kolossalen Bauten von Les Menuires.
Foto: Harald Sager

Les Menuires war als "integrierte Skistation" konzipiert, das heißt, es musste alles vorhanden sein, was man für den Wintertourismus brauchte: Infrastruktur, Unterbringung, Restaurants, Geschäfte und in unmittelbarer Nachbarschaft von alldem die Lifte. Vom Hotel zur nächsten Beförderungsanlage waren es nur wenige Schritte.

Brutalistische Betonarchitektur

Da es kein Ortsbild gab, auf das Rücksicht zu nehmen war, konnten sich die Architekten so richtig austoben. Das hieß damals: brutalistische Betonarchitektur nach dem Vorbild Le Corbusiers, Urbanismus statt Alpenkitsch.

Als Erstes gingen die Nachbarbauten Tour Neige et Ciel und Les Lauzes in die Höhe, das eine ein Hochhaus, das andere ein Wohnblock. Zeitgleich wurde an der Croisette gearbeitet, einem halbkreisförmigen Ensemble aus Hotels und Appartementhäusern samt Lokalen und Geschäften und einem Arkadengang, damit man sich bei jedem Wetter bewegen konnte.

Die offene Mitte bildeten die Liftanlage und der Auslauf der Skipisten. Die Bauten gingen teils mächtig in die Breite, teils in die Höhe, denn es sollten möglichst viele Gästezimmer untergebracht werden. Einigen wurden pagodenartige Dächer verpasst, die damals anscheinend der letzte Schrei waren.

Ein gestrandeter Ozeandampfer

So weit das Zentrum, aber der spektakulärste und weitaus größte Bau ist der Appartementkomplex Le Brelin, der sozusagen einen Stock höher liegt und mit einer Kurz-Zahnradbahn zu erreichen ist. Er wurde 1970 eröffnet und umfasst 670 Appartements sowie eine Ebene mit Geschäften und Restaurants.

"Der Architekt Philippe Douillet entwarf Le Brelin nach dem Vorbild von Le Corbusiers Cité radieuse in Marseille, aber es schwebte ihm noch ein anderes Bild vor, nämlich das eines Dampfers in einem Meer von Schnee", erklärt David Dereani, der Architekturführungen vor Ort anbietet. So ist das langgestreckte, aus mehreren Modulen zusammengesetzte Gebäude unter dem Namen "paquebot" geläufig, und es erinnert tatsächlich an einen Ozeandampfer, der sich in ein fremdes Milieu verirrt hat.

Übereinandergestapelte Pizzaschachteln

An einem Ende ist das Gebäude quasi in den Fels hineingerammt, am anderen ragt es in die Leere hinaus. Die Ebenen schichten sich übereinander, eine schmale kajütenfensterartige Front, darüber weiße Fassade, darüber wieder Fenster. Man könnte auch an übereinandergestapelte Pizzaschachteln denken.

"Damals war Le Brelin ein Schock, ein Bruch mit der Tradition. Doch 2010 ist es vom französischen Kulturministerium als ‚bemerkenswertes Architekturerbe des 20. Jahrhunderts‘ klassifiziert worden", erzählt Dereani. Tatschlich kommen in der schneefreien Zeit mehr und mehr Gäste wegen der Architektur.

Zu viel fürs menschliche Auge

Das ultramoderne Les Menuires passte in den 1960er-Jahren in die Zeit und zu deren – aufstrebendem, vorwärtsgewandtem – Lebensgefühl. Der Ort hätte ein gutes Alpinsetting eines damaligen James-Bond-Films abgegeben. Aber selbst heute noch hat die Mini-Skyline von Les Menuires etwas leicht Irritierendes, etwas in die kahle Alpenlandschaft Hineingeklotztes, wenn man sie, von der Gebirgsstraße kommend, zum ersten Mal sieht.

Vielleicht waren die Architekturdelirien, die nicht nur in Les Menuires, sondern auch in La Plagne, Superdévoluy, Les Arcs oder Tignes Val Claret aufgezogen wurden, doch zu viel fürs menschliche Auge selbst jener Zeit, denn schon 1977 zog der damalige Präsident Giscard d’Estaing die Notbremse und verkündete: "Der Städter besucht die Berge, um sich an Landschaften zu erfreuen, die von tausendjähriger bäuerlicher Zähigkeit geprägt wurden und von Lebensweisen künden, die sich von denen in den Städten unterscheiden. Das Konzept des ‚integrierten Skiorts‘ passt nicht mehr zu dieser neuen Vision."

An die Hänge rund um den Ort schmiegten sich ursprünglich nur ein paar Almhütten.
Foto: Vincent Lottenberg

Also wurde wieder auf die Tradition der Ortskerne und den in den französischen und schweizerischen Alpen verbreiteten Chaletstil aus Holz und Steinblöcken zurückgegangen. Nicht dass der hier heimisch gewesen wäre: In der Vallée des Belleville wurden die Wohnhäuser traditionellerweise aus Stein gebaut und anschließend verputzt, Holz war weiter oben rar und kam daher nur wenig zum Einsatz.

Die Trois Vallées

Hierzulande ist Les Menuires vielleicht weniger berühmt, aber die Trois Vallées kennt man, denn sie gelten mit ihren 600 Pistenkilometern als die größte – bis auf über 3500 Meter reichende – Skischaukel weltweit. Die angesprochenen Täler sind die von Courchevel und von Méribel sowie das Belleville-Hochtal mit der traditionellen Ortschaft Saint-Martin-de-Belleville, Les Menuires und dem ebenfalls ab 1972 auf dem Reißbrett entworfenen Val Thorens.

Als höchstgelegener Wintersportort Europas (2300 Meter) ist Val Thorens einschlägig prädestiniert, außerdem ist es eine Partylocation für die Jüngeren, eine Art savoyisches Ischgl.

Les Menuires wiederum hat sich dank des großen Appartementangebots als tendenziell günstigere Familiendestination positioniert. Ursprünglich war es als reine "station d’hiver", also als Wintersportort, konzipiert. Aber seit einigen Jahren versucht die Gemeinde, auch den Sommertourismus zu forcieren, der bislang nur zehn Prozent des Umsatzes ausmacht.

Marlène Giacometti, Geschäftsführerin des lokalen Tourismusbüros: "Der Winter ist kein Wachstumsmodell mehr. Zudem fürchten die Verantwortlichen, dass durch den Klimawandel der Schnee in den kommenden Jahrzehnten ausbleiben wird."

Sommerliche Animation

Dementsprechend wird dafür gesorgt, dass auch im Sommer alle Spaß haben: Auf der Croisette üben sich Kinder und Jugendliche im Bogenschießen und springen auf Hüpfburgen herum, es gibt Spiel- und Sportplätze, ein DJ versucht von seiner Bühne aus, die Vorbeigehenden zum Tanzen zu überreden, und in der Nähe turnt eine Animateurin ihrem Publikum etwas vor, wobei die Musiken ineinander übergehen – was niemanden zu stören scheint.

In den letzten Jahrzehnten kamen Appartementkomplexe im Chaletstil hinzu und erst im Jahr 2000 der neue Kirchturm, eine luftige Stahlkonstruktion.
Foto: Harald Sager

Am Ufer des Flusses Doron wurden Liege- und Lagerwiesen angelegt, etwas oberhalb verläuft die "Montagne aventure", ein Parcours aus altersgerechten Klettersteigen und Stegen samt Seilrutsche quer über den Fluss. Auf der Musteralm Pépé Nicolas kommen Kinder mit Gänsen, Schafen und Hühnern in Berührung und lernen Ziegen melken. Das Ganze hat schon ziemlichen Halligalli-Charakter, aber niemand soll sagen, dass ihm langweilig geworden ist.

Wer es im Gebirge etwas erwachsener haben will, kann beispielsweise zum See Lac du Lou wandern oder sich einer Steinbockbeobachtung im Seitental Les Encombres anschließen, mit anschließendem Snack in der Schutzhütte "Refuge de Gittamelon".

Oder mountainbiken gehen – das riesige Gebiet der drei Hochtäler ist auch durch zahlreiche einschlägige Routen erschlossen. Wer es nicht schon kann, sollte es sich auf einer geführten Tour mit einem der Lehrer der Bike Academy beibringen lassen, denn die Dinger können ganz schön Fahrt aufnehmen. (Harald Sager, RONDO, 1.5.2022)